Warum wir für die anderen bezahlen sollen

Kürzlich hat sich die Patientenschützerin Margrit Kessler dafür ausgesprochen, dass Krankenkassen nur noch Kosten übernehmen sollen, wenn Patienten ihre Krankheit nicht selbst verschuldet haben (Artikel in 20 Minuten). Sie ist nicht die einzige, die so denkt: Immer mehr Menschen schliessen sich der Meinung an, dass, wer selber schuld ist, selber zahlen soll. Der alkoholisierte Jugendliche, der in der Notfallaufnahme landet, genauso wie die ehemals Drogenabhängige, die sich mit Hepatitis C infiziert hat. Diese Denkweise ist nachvollziehbar: Wer sich bewusst für ein Risiko oder eine gesundheitsschädigende Handlung entscheidet, soll gefälligst für die Kosten selber aufkommen. Wieso sollen wir für diese Menschen bezahlen? Dieser Ansatz hat seinen Ursprung in der Ökonomie, er nennt sich dort „Verursacherprinzip“ – wer Kosten verursacht, soll bezahlen. Der Gedanke scheint auf den ersten Blick fair und logisch. Denkt man ihn aber auf das Gesundheitssystem übertragen zu Ende, geht die Rechnung nicht auf – die Folgen des Schuldprinzips sind potenziell verheerend für uns alle.


Wer entscheidet, wer schuld ist?
Damit der Ansatz des Verursacherprinzips im Gesundheitswesen Sinn macht, müssten wir alle mit den gleichen Voraussetzungen geboren werden, ohne unterschiedliche genetische oder soziale Vorbelastungen und Veranlagungen. Dieser Umstand ist schon einmal nicht gegeben. Das Prinzip impliziert ausserdem, dass sich jemand immer bewusst und freiwillig für oder gegen eine Aktion entscheidet und dass immer ein klarer Zusammenhang zwischen einem Entscheid und den Kosten, die daraus entstehen, besteht. Was nun, wenn keine freiwillige, informierte und bewusste Entscheidung einem Handeln zugrunde liegt und die Kosten nicht direkt, sondern indirekt entstehen? Wenn eine Veranlagung, eine vererbte Vorbelastung, ein durch schwierige Umstände ausgelöster Mechanismus eine Krankheit auslösen? Wurden die überflüssigen Kilos durch eigenes Verschulden angegessen oder liegt dem Übergewicht eine psychische oder physische Krankheit zugrunde oder eine genetische Veranlagung? Wer entscheidet, ob die Kosten für die Folgeerkrankungen der zusätzlichen Pfunde wie Diabetes oder Gelenkprobleme selber getragen werden müssen? Wer entscheidet, ob das Asthma eines Kindes durch den rauchenden Vater verursacht worden ist? Ob die Knieprobleme vom Joggen kommen und so selbst verursacht worden sind? Joggen ist doch gesund, oder? Ist das Burnout selbst verschuldet, weil die Anzeichen nicht ernst genommen worden sind oder man sich nicht zu wenig von der Arbeit abgegrenzt hat? Ich möchte nicht derjenige sein, der entscheidet, ob jemand der Verursacher seiner Krankheit ist und darum selber zahlen oder nicht behandelt werden soll!
Denn darauf läuft es hinaus: wer selber schuld ist, muss selber bezahlen. Das könnten sich nur die finanziell Bessergestellten unter uns leisten – eine Zweiklassengesellschaft im Gesundheitswesen ist vorprogrammiert.


Wollen wir das Solidaritätsprinzip wirklich opfern?
Frau Kessler rüttelt mit ihren Ansichten an einem grundlegenden Pfeiler unserer Gesellschaft: dem Solidaritätsprinzip. Denn wenn wir unter bestimmten Umständen für die anderen nicht mehr zahlen wollen, ist das nicht vereinbar mit der solidarischen Gesundheitsversorgung, wie wir sie heute kennen und – sind wir ehrlich - schätzen: Wir finanzieren mit unseren Krankenkassenprämien zwar die Behandlungen anderer, sind dadurch aber auch selber abgesichert, wenn wir krank werden. Niemand von uns weiss, was die Zukunft bereithält. Vielleicht leiden wir an Bluthochdruck und bekommen Herz- und Kreislaufprobleme, und ein Arzt entscheidet, dass wir selber schuld sind, weil nicht schlank genug. Vielleicht ist unser Bruder, unser Kind, unser Vater oder unsere beste Freundin nicht vom Glimmstängel weggekommen und erkrankt an Lungenkrebs. Wer soll überhaupt noch behandelt werden? Schaffen wir die solidarische Krankenversicherung doch einfach ab, dann stellt sich dieses schwierige Frage nicht mehr. Aber ich bin überzeugt, wir alle würden sie uns früher oder später zurückwünschen – wenn nicht für uns selber, dann für jemanden, der uns nahesteht.
Zeigen wir also nicht mit dem Finger auf die anderen und urteilen über deren Schuld oder Unschuld für ein Leiden. In einem von Solidarität getragenen Gesundheitssystem bezahlen die einen für die anderen und das mag nicht immer fair scheinen. Aber genau das ist das Wertvolle daran. Denn dann bezahlen die anderen auch für einen selber, wenn wir es einmal nötig haben sollten – hoffentlich ohne Vorbehalte und  Schuldzuweisungen.

Nach fairen Kriterien suchen
Die Diskussion um die Kostenfrage unserer Gesundheitsversorgung mit immer teurer werdenden Medikamenten und Behandlungen muss dringend geführt werden, daran besteht bestimmt kein Zweifel. Aber anstatt das Problem mit Schuldzuweisungen zu lösen, sollten wir nach einem Ansatz suchen, der nicht ganze Patientengruppen diskriminiert. Ein mögliches Kriterium für eine Übernahme der Kosten durch die Krankenkasse ist zum Beispiel die Frage nach dem Nutzen einer Therapie für den Patienten. Verspricht eine Behandlung Heilung? Verlängert sie die Lebensdauer massgeblich? Verbessert sie die Lebensqualität spürbar? Auch diese Diskussion ist heikel, denn die Entscheidung, ab wann sich eine Behandlung nicht (mehr) lohnt, wird die Gemüter erhitzen und für jene, welche in diese Kategorie fallen, schwierig zu akzeptieren sein. Aber wenigstens würden dann für alle die gleichen Regeln gelten.



*Die Arud setzt sich seit über zwanzig Jahren für Menschen ein, deren Suchtverhalten oder Konsum von psychoaktiven Substanzen problematisch ist. Ihr Ziel ist, die negativen Auswirkungen des Konsums auf die Betroffenen, deren Familie und deren
Umfeld zu vermindern. Ein interdisziplinäres Team aus der Psychiatrie, Psychologie, Inneren Medizin, Infektiologie, Forschung und Sozialarbeit stellt die Gesundheit und Lebensqualität der Betroffenen tagtäglich in den Vordergrund. www.arud.ch