«Wo waren eigentlich die Intellektuellen, als Europa zu Bruch ging?»

Zum Manifest zur Gründung Europas von unten

Beim Begriff «Europa» denken viele bald nur noch an gescheiterte Krisengipfel, harte Sparprogramme und zerfetzte Rettungsschirme. Früher oder später musste da ein «Manifest zur Neugründung Europas von unten» erschallen. Verfasst haben es der Soziologe Ulrich Beck und der grüne Europa-Politiker Daniel Cohn-Bendit und unterschrieben haben es berühmte Menschen wie Altbundeskanzler Helmut Schmidt, die Literaturnobelpreisträger Herta Müller und Imre Kertész oder der Philosoph Jürgen Habermas und die Regisseure Wim Wenders und Doris Dörrie. Die Diagnose beginnt ganz ordentlich: «Die Jugend Europas, besser ausgebildet denn je, erfährt mit den drohenden Staatsbankrotts (sic!) und dem Niedergang der Arbeitsmärkte ihr ‹europäisches Schicksal›. Jeder vierte Europäer unter 25 Jahren ist arbeitslos. Dort, wo das jugendliche Prekariat seine Zeltlager errichtet hat und seine Stimme öffentlich erhebt, geht es um die Forderung nach sozialer Gerechtigkeit.» Da kann man nur sagen: Ja! Aber alles, was das Manifest als Antwort bietet ist, «ein freiwilliges Jahr für alle – für Taxifahrer und Theologen, für Angestellte, Arbeiter und Arbeitslose, für Musiker und Manager, für Lehrer und Lehrlinge, Künstler und Köche, Richter und Rentner, für Frauen und Männer – als eine Antwort auf die Euro-Krise!» Das war’s. Keine Rede vom seit 25 Jahren bestehenden studentischen Austauschprogramm «Erasmus», kein Wort über den Europäischen Freiwilligendienst, bei dem junge Menschen zwischen 16 und 30 Jahren bis zu zwölf Monaten irgendwo in Europa arbeiten können. Und selbstverständlich kein Pieps über die Ursache der beklagten sozialen Ungerechtigkeit, die unverschämte Umverteilung von Arbeitenden zu Besitzenden über den Zinsmechanik in unserem Kreditgeldsystem.

Das Manifest zur Neugründung Europas – ein grosses Wort und eine kleine Idee. «Wo waren eigentlich die Intellektuellen, als Europa zu Bruch ging?» fragte die Wochenzeitung «Zeit» im letzten November. Wenn sie das Manifest jetzt als «Paukenschlag» bezeichnet, hat sie ihre eigene Frage nicht verstanden oder es gibt keine öffentlichkeitswirksamen Menschen mehr, die ihren Intellekt dafür einsetzen, wofür er gedacht ist: Die Ursachen von Problemen zu erkennen und Lösungsvorschläge zu machen.

Über

Christoph Pfluger

Submitted by admin on Do, 07/13/2017 - 08:33

Christoph Pfluger ist seit 1992 der Herausgeber des Zeitpunkt. "Als Herausgeber einer Zeitschrift, deren Abobeitrag von den Leserinnen und Lesern frei bestimmt wird, erfahre ich täglich die Kraft der Selbstbestimmung. Und als Journalist, der visionären Projekten und mutigen Menschen nachspürt weiss ich: Es gibt viel mehr positive Kräfte im Land als uns die Massenmedien glauben lassen".

032 621 81 11