Das globalisierte Unglück

Die Corona-Krise bringt das Scheitern der Hyperglobalisierung ans Licht. Korrekturen sind dringend nötig.

Die Corona-Krise legt die Schwächen der Globalisierung offen. /zvg

"Schon wieder" – ist man geneigt zu sagen, auch wenn sich die Geschichte nicht einfach wiederholt. Covid-19 ist anders als die «Asienkrise» vor gut zwanzig Jahren und der Finanzcrash vor mehr als zehn Jahren. Dennoch: Schon wieder, weil sich schon damals national ausgebrochene Krisen rasant globalisiert hatten und warnende Stimmen gegen die Hyperglobalisierung provozierten. Mit der Corona-Pandemie sind die Zweifel noch erdrückender geworden. Vor zehn und vor allem vor zwanzig Jahren hatten die meisten reichen Länder vergleichsweise wenig zu leiden. Jetzt sind sie die Zentren des globalen wirtschaftlichen «Lockdown».

Die Schwächen der Hyperglobalisierung sind offensichtlich und vielfältig. Die Lieferketten vieler Produkte sind äusserst fragil. Viele Abnehmer sind von wenigen Produzenten abhängig, die Gesundheitsforschung ist beunruhigend einseitig. Die Vorsorge auf eine seit langem vorausgesagte Pandemie war erschreckend schwach.

Diesen Schwächen ist eines gemein, sich nur auf die Marktkräfte zu verlassen, genügt nicht. Wie vor mehr als zehn Jahren die Finanzmärkte nicht zur Selbstkorrektur fähig waren, so versagten dieses Mal die Akteure auf den Gesundheitsmärkten. Zum Marktversagen hinzu kommt das Versagen der Staaten, weil sie sich vom Zeitgeist «der Markt richte es» verführen liessen. «Das Glück, dass die politischen Beschlüsse dank der Globalisierung grösstenteils durch die weltweite Marktwirkung ersetzt wurden», wie es der legendäre US-Zentralbank-Chef Alan Greenspan ein Jahr vor dem Finanz-Crash in einem Interview (Tages-Anzeiger, 19. September 2007) gemünzt auf die USA formuliert hatte, erweist sich jetzt als globalisiertes Unglück.

Hüter des Status quo warnen vor «Seuchen-Sozialismus», die Ideologie vom schlanken Staat wird reanimiert.

Wirtschaftsprognostiker sagen uns nach dem steilen Absturz der Wirtschaft für nächstes Jahr einen ebenso steilen Wiederaufstieg voraus – als ob die «Normalität»“ quasi-automatisch schnell zurückkehre. Dabei zeigt sich genau jetzt wie lebensgefährlich die Hyperglobalisierung sein kann. Es braucht mehr Resilienz, um global ausbreitende und verstärkende Risiken abzuwehren. Der Handlungsbedarf lässt sich aus den Mängeln ableiten, welche die Corona-Krise offenlegt.

Die Lieferketten nach dem Prinzip «just in time» sind unzuverlässig, die geringe Zahl von Anbietern führen zu fatalen Abhängigkeiten. Das gilt offensichtlich für Schutzausrüstungsprodukte wie Masken, Handschuhe, Schutzbrillen und andere Schutzbekleidungen, Beatmungsgeräte und Desinfektionsmittel. Zu riskant ist auch die Abhängigkeit der weltweiten Pharmaindustrie von wenigen Herstellern in Indien und China, wohin die Produktion aus Kostengründen ausgelagert wurde. China ist zum weltweit grössten Produzenten medizinischer Wirkstoffe aufgestiegen, Indien zum grössten Anbieter von Generika und deckt sich für die zu verarbeitenden Wirkstoffe auch noch zu 80 Prozent in China ein.

Auch die Forschung der Pharmabranche ist nicht auf die globalen Gesundheitsbedürfnisse ausgerichtet. Die Branche hat «weder dem Geschäft mit antiviralen Arzneimitteln noch dem mit Impfstoffen grosse Bedeutung zugemessen», stellte die NZZ (16. April 2020) unlängst fest. Vakzine und die antiviralen Mittel würden zwar das viert- bzw. das fünftgrösste Produktsegment innerhalb des weltweiten Medikamentenmarkts bilden, im Vergleich mit der dominanten Vermarktung von Krebspräparaten aber gleichwohl bloss Nebenschauplätze darstellen. Der Erlös in der Onkologie übertraf 2018 jenen mit antiviralen Medikamenten um das Dreifache und jenen mit Vakzinen um das Vierfache. Und die Differenzen – so schätzten Branchenkenner zumindest vor der Corona-Krise – dürften sich in nächster Zukunft noch massiv vergrössern.

Es wird dort geforscht und produziert, wo hohe Gewinne in Aussicht sind.

Viele Pharmaunternehmen haben sich aus dem Geschäft mit Vakzinen zurückgezogen. Trotz wiederholter Pandemiewarnungen in den letzten 20 Jahren wurde abgerüstet statt aufgerüstet. Es war finanziell schlicht zu wenig verlockend, Impfungen zu entwickeln. Nur gegen Ebola waren die Bemühungen erfolgreich.

Jetzt rauft man sich zwar zusammen. Die Pharmakonzerne öffnen ihre Wirkstoff-Schatzkammern und tauschen sich untereinander aus. Jetzt, da der Ruf der Pharmawelt auf dem Spiel steht. Das heisst aber noch nicht, dass sich die Forschungsprioritäten ändern werden.

Deshalb ist die Politik gefordert. Wo Märkte versagen, muss sie sich einbringen. Sie muss sicherstellen, dass die Forschung auf die Gesundheit als öffentliches globales Gut ausgerichtet ist – auch wenn keine grossen Margen locken. Auch der Patentschutz darf kein Tabu sein, wenn es um die Versorgung der Bevölkerung in den armen Ländern geht. Es soll nicht die «Preismacht» entscheiden, welche die Pharmakonzerne dank ausgebautem Patentschutz auszuspielen vermögen.

Die Pandemie stellt über die Gesundheitsfrage hinaus die Hyperglobalisierung in Frage. Die Verbreitung der Viren stellt auch ein von Menschen verursachtes ökologisches Problem dar. Wenn Wälder abgeholzt, Strassen auch in entlegene Gebiete gebaut, Soja und Getreide angebaut, die Tierhaltung intensiviert und mit Wildtieren gehandelt und so die Artenvielfalt reduziert wird, darf das nicht nur als ein Problem des Naturschutzes abgetan werden. Es ist «in Wirklichkeit auch ein gewaltiges globales Gesundheitsproblem», weil die Umweltzerstörungen den Viren neue Übertragungswege öffnen, erläuterte unlängst die Wissenschaftsjournalistin Juliette Irmer Ende März in der NZZ am Sonntag das Verhältnis zwischen Natur und Mensch. Erreger von Wildtieren springen auf Nutztiere oder Menschen über. Das Vordringen in bisher nicht erschlossene Gebiete wirft über Gesundheitsprobleme hinaus auch die Frage nach den Grenzen des Wirtschaftens auf.

Soll der Markt bestimmen, wie weit der Mensch in die Natur eingreift?

Diese Frage stellt auch das Ziel eines ungehinderten Freihandels in Zweifel. Woher kommen die Hölzer, das Soja und Palmöl, das Fleisch und mineralische Rohstoffe her? Werden sie auf Kosten tropischer Wälder und der Artenvielfalt produziert und unter welchen Bedingungen? Debatten über transparente Lieferketten, wie sie die Konzernverantwortungsinitiative in der Schweiz und mitten in der Corona-Krise die EU-Kommission neu angestossen hat, kommen zum richtigen Moment.

Abschied von der Hyperglobalisierung bedeutet allerdings nicht Rückzug hinter die nationalen Grenzen und schon gar nicht «America first» oder ähnliche Nationalismen mit beliebig protektionistischen Massnahmen – sondern der Weg hin zu einer globalen Kooperation. Pandemien halten sich nicht an Grenzen, genauso wenig wie sich Schutzwälle gegen die Erderwärmung und die Folgen des Klimawandels bauen lassen. Nationale Eindämmung des Virus und der Treibhausgasemissionen nützen wenig, wenn die andern nicht mittun. Der Abschied von der Hyperglobalisierung steht deshalb nicht im Widerspruch zu globaler Kooperation.