Die 50-jährige Verhütung der sexuellen Selbstbestimmung

Heutei jährt sich die Pillenenzyklika zum fünfzigsten Mal – und es soll so weitergehen. Denn die Menschheit soll wie die Wirtschaft weiterwachsen. Die Folgen sind fatal.

Frauen (und Männer) in Äthiopien an einem trainingsprogramm in Familienplanung, Bild: Melesse Desalgn, USAID

1968 wurde eine der wichtigsten Entscheidungen für die gesamte Menschheit von ein paar Männern in Rom gefällt, die sexuell inaktiv leben (sollten): Es handelt sich um die Enzyklika „Humanae Vitae“ – auch Pillenenzyklika genannt. Verhütung von Schwangerschaften wird darin strikt* verboten. Kürzlich bekräftigte der Churer Bischof Vitus Huonder die Haltung: „Verhütung gehört zur Kultur des Todes.“
In Grossbritannien haben fast 500 Priester (100% Männer) mit ihrer Unterschrift die Stützung der Pillenenzyklika bekundet. Die Bewegung sei stärker als 1968, berichtete der „Catholic Herald“. Dass der heutige Papst den damaligen Paul Vl. im Oktober 2018 heiligsprechen will, lässt vermuten, dass (arme) Frauen sich weiterhin nicht davor schützen können, als Gebärmaschinen missbraucht zu werden.

Kampf gegen ein essentielles Menschenrecht
Am 13. Mai 2018 ist das UNO-Menschenrecht auf Familienplanung 50 Jahre alt geworden. Die Medien haben das Jubiläum ignoriert. Dass dieses Menschenrecht bekämpft, beziehungsweise tabuisiert wird, hat verschiedene Ursachen. Eine davon ist, dass das momentan geltende Wirtschafts- und Geldsystem ewiges Wachstum braucht, um nicht zu kollabieren. Eine wachsende Weltbevölkerung scheint also gut fürs Geschäft einer kleinen Minderheit zu sein. Für das Leben als Ganzes aber erzeugt dies unnötiges Leid wie Hunger, Kriege und Zerstörung der Mitwelt.

1971 fordert der WWF Schweiz: „Begnüge dich mit zwei Kindern.“
Weiter steht beim ersten Punkt der WWF-Broschüre mit dem Titel „Die 44 Punkte des Umweltschutzes”: „Wenn Du unbedingt mehr als zwei haben willst, so adoptiere die weiteren oder nimm Pflegekinder auf.“ Begründung: „Wohl ist die Umweltzerstörung eine Begleiterscheinung der Zivilisation, ihre schlimmen Ausmasse aber hat sie durch die grosse und immer noch wachsende Zahl von Menschen angenommen… Noch können wir uns entscheiden, ob wir den Ausgleich durch eine freiwillige Senkung der Geburtenrate erreichen oder ob wir zuwarten wollen, bis die Natur durch eine gewaltsame Erhöhung der Todesrate dafür sorgen wird.“ Der heutige WWF wie auch Greenpeace oder Pro Natura wollen mit diesem wichtigen Umweltfaktor leider nichts zu tun haben: Marketingexperten sagen, es sei nicht förderlich fürs Image und damit für das Spendenkonto…

„Kultur des Todes”
In sog. Entwicklungsländern werden pro Jahr etwa 90 Millionen Frauen ungewollt schwanger. Diese nicht-gewollten Schwangerschaften führen zu 48 Millionen Abtreibungen. Dies ist so, weil etwa 200 Millionen Paaren die sexuelle Selbstbestimmung (Aufklärung und gute Verfügbarkeit von Verhütungsmitteln) vorenthalten wird. Dem UNO-Bevölkerungsfonds (UNFPA) fehlen jedes Jahr 4 bis 8 Milliarden, um diese Menschenrechtsverletzungen zu beenden. Ist das ein Zufall?
Für Bankenrettungen und Militär werden Billionen ausgegeben – für die Umsetzung des 50 Jahre alten Menschenrechts aber fehlen die minimalsten Mittel. Die NATO kann damit rechnen, dass ihre Forderung, zwei Prozent des BIP für Militär aufzuwenden - erfüllt wird. Für Deutschland heisst dies, dass es bis 2024 sein Kriegsbudget von rund 30 Milliarden auf über 60 Milliarden Euro verdoppeln müss(t)e. „Von deutschem Boden darf nie wieder Krieg ausgehen“ soll mit immer mehr Mordinstrumenten umgesetzt werden. Diese ‚Kultur‘ der Massenvernichtung wird vom Vatikan kaum bekämpft.

Schutz des Lebens – vor der Geburt
Vatikanische Männer sind weltweit gegen Abtreibungen politisch aktiv. Es gibt hunderte von katholischen Organisationen, die sich für den Schutz des menschlichen Lebens (vor der Geburt) engagieren. Abtreibungen präventiv verhindern zu wollen ist auf jeden Fall förderungswürdig, dogmatische Verbote aber sind kontraproduktiv:  Die Deutsche Stiftung Weltbevölkerung und die UNO haben gezeigt, dass es über 50 Millionen weniger ungewollte Schwangerschaften und über 25 Millionen weniger Abtreibungen gäbe, hätten alle Menschen einen würdigen Zugang zu Aufklärung und freiwilliger Familienplanung. Wer also tatsächlich weniger Abtreibungen will, sollte endlich beginnen, dieses 50-jährige Menschenrecht umzusetzen.

Schutz des Lebens – nach der Geburt?
Auffällig ist, dass es kaum vatikanische Organisationen gibt, die sich politisch aktiv gegen Todesstrafe, Kriegsgeschäfte, Waffenexporte und (völkerrechtswidrige) Kriege engagieren. Warum ist das Leben vor der Geburt heilig und warum erhält der Schutz des Lebens nach der Geburt vom Heiligen Stuhl höchstens Lippenbekenntnisse?

Schutz von Mutter Erde
Papst Franziskus hat in seiner Umwelt-Enzyklika „Laudato Si“ von 2015 klargemacht, dass nicht das Bevölkerungswachstum (1) das Problem sei, sondern der Konsum (2) der Wohlhabenden. Kurz zuvor, auf dem Rückflug aus den Philippinen, sagte Franziskus noch in der Luft: „Gute Katholiken müssen sich nicht wie Karnickel vermehren.“ Was gilt denn nun?
E = m x c Die Effekte (E) auf das Ökosystem Erde werden von der Anzahl Menschen (m) und unserem durchschnittlichen Konsumverhalten (c) beeinflusst. Beide Komponenten müssen berücksichtigt werden. Dies wird unter anderem vom Global Footprint Network bestätigt. Da eine wachsende Menschheitsfamilie (m) zu immer mehr Konsum (c) animiert wird (Wachstumszwang, Werbung), gibt es einen neuen Erd-Belastungs-Rekord: der diesjährige Earth Overshoot Day fällt auf den 1. August – so früh wie noch nie. Vom Schweizer Nationalfeiertag an bis Ende Jahr beansprucht (raubt) die Menschheit das, was unseren Kindeskindern zusteht. Die Erde kann nur dann genesen, wenn m und c wieder berücksichtigt werden. m und c sind überlebenswichtig.

Empathie
Wer sich in eine Mutter hineinfühlen kann, die ungewollt schwanger wurde und nicht weiss, wie sie ihr (zusätzliches) Kind ernähren soll, versteht, wie wichtig es ist, dass das Menschenrecht auf freiwillige Familienplanung endlich allen Menschen zur Verfügung gestellt werden muss. Dank der Einhaltung dieses Menschenrechts kann millionenfaches unmittelbares Leid verhindert werden und die Weltbevölkerung würde um einen Drittel weniger wachsen – immerhin.

Ja zum Menschenrecht auf Familienplanung für alle
Wer empathie-fähig ist, darf nicht akzeptieren, dass Hilfswerke, Umweltorganisationen, Staaten, Religionen aber auch Unternehmen dieses Menschenrecht verletzen. Sexuelle Selbstbestimmung ist noch immer für viel zu viele Menschen keine Selbstverständlichkeit. Deshalb braucht es eine starke Solidarisierung mit Frauen (und Männern), die teilweise mit Gewalt von diesem Menschenrecht ausgegrenzt werden. UNO-Ziel ist es, dass möglichst ALLE Frauen erwünscht empfangen können und verschont werden von ungewollten Schwangerschaften und dem riesigen Schaden, der dadurch global ausgelöst wird. Auf was warten wir?

 * „natürliche“ Familienplanung wird vom Vatikan erlaubt. Ich habe in den 90er Jahren mehrmals Mutter Teresa in Kalkutta besucht und ihr natürliches Familienplanungsprogramm kennengelernt. In Kalkutta hat es nicht funktioniert.
** Eine Deklaration für Entscheidungsträger/innen zeigt Möglichkeiten auf, wie das 68er Menschenrecht auch von Unternehmen in Projekte integriert werden kann. Diese Deklaration wird mitgetragen von Hans Herren, Emil Steinberger, Christine und Ernst Ulrich von Weizsäcker, Jacques Gaillot,  Eugen Drewermann, Vandana Shiva, Remo Gysin, Richard Gerster, Al Imfeld, Liliane Maury Pasquier, Franz Alt, P.V. Rajagopal und weiteren Persönlichkeiten.

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Quellen:
• DSW: Deutsche Stiftung Weltbevölkerung www.dsw.org
• UNFPA: United Nations Population Fund www.unfpa.org
• fairCH: www.fairCH.com
• Deklaration: www.fairch.com/agieren-sie-mit/f%C3%BCr-faire-entwicklung/
• Global Fooprint Network:  www.footprintnetwork.org
• Earth Overshoot Day: www.overshootday.org/take-action/population/

Die Päpstliche Akademie der Wissenschaften engagierte sich 1994 vergebens für das Menschenrecht auf Familienplanung und damit gegen Humanae Vitae. Mehr dazu: https://www.fairch.com/themen/menschenrecht-familienplanung/