Mehr als 50 Prozent der Weltbevölkerung lebt heute in Städten, 2050 werden es 75 Prozent sein. Das Leben auf diesem Planeten wird mehrheitlich ein Leben in der Stadt sein. Wie werden die Städte der Zukunft aussehen?

Der Begriff «Stadt» deckt eine breite Palette völlig disparater Wirklichkeiten ab: zwischen dichten Kernstädten und Agglomerationen, slum-artigen Ansammlungen (sogenannten «Arrival Cities») oder informellen Siedlungen besteht in der Lebensrealität ein grosser Unterschied. Andere Aspekte, wie arm und reich, vernetzt oder isoliert, abgesichert oder prekär, demokratisch oder autoritär, rechtsstaatlich oder willkürlich, sind wohl entscheidender. Städte können das Paradies oder die Hölle sein, je nach dem. Sie können Orte der Freiheit oder der Unterdrückung sein. Stadtluft macht nicht mehr frei, wie im Mittelalter. Ob man in der Stadt lebt aus Lust am prallen Leben, oder aus Not macht einen grossen Unterschied. Urbanität heisst noch nicht Lebensqualität.

Sagen wir also: Stadt ist einfach ein umgrenztes Territorium, wo wir wohnen, arbeiten und uns unterhalten, mehr oder weniger vernetzt, mehr oder weniger dicht, mehr oder weniger angenehm. Weil in der Stadt so viel passiert, bedeutet Stadt relativ mehr Dichte statt auf dem Land. Auch hier gehen die Zahlen weit auseinander: Beträgt die Bevölkerungsdichte 27 476 Einwohner je km² in Manhattan oder 21 346 in Paris (höchste Dichte in Europa), so sind es für Los Angeles (das kaum als Stadt bezeichnet werden kann) 905. In Zürich sind es 4046/km², in Aussersihl, dem dichtesten Stadtquartier, 9519/km². Verglichen mit Paris oder Barcelona (16›046 Einw./km²) hat es also noch viel Platz in Zürich.

Dichte allein macht es nicht aus
Die relativ grössere Dichte von Städten gegenüber dem Land ist eine Bedingung für das Zusammenwirken von Menschen, für Austausch, für die Konzentration von Ressourcen und kurze Wege, aber sie allein erzeugt noch nicht notwendigerweise Kooperation. Siedlungen können dicht sein wegen Wohnraummangels, auf Grund topographischer Eigenheiten (wie Hongkong), wegen ökonomischer Optimierungen. Viele Menschen auf engem Raum zusammenzudrängen bedeutet noch nicht das, was uns als lebenswerte Stadt vorschwebt.
Auch eine blosse Ansammlung grosser, repräsentativer Bauten ist für uns noch nicht Stadt. Die mesopotamischen, ägyptischen, indischen, mayanischen oder anderen Tempelstädte dienten weniger der Kooperation der Einwohner als dem Herrschaftsanspruch von Königen und Priestern. Dubai oder Brasilia sind keine wirklich attraktiven Städte. Türme, Hochhäuser und andere architektonische Wunderwerke sind zwar imposant, machen aber allein keine Stadt. Wir wollen nicht nur beeindruckt, sondern auch beheimatet werden.

Die Städte im Würgegriff des Immobilienkapitals
Allerdings sind die realen Städte weit entfernt sowohl von historischen Vorbildern als auch von den kooperativen Städten der Zukunft. Vor allem das Aufkommen des Automobilverkehrs hat die Städte arg zerschnitten und zerzaust. Ihre territoriale Einheit wurde aufgelöst. Los Angeles besteht praktisch nur noch aus Netzwerken. Little Tokio oder China Town sind nur künstliche Open Air Shopping Malls. Da die wichtigste Ressource für eine demokratische Stadt, das Land, durch den Privatbesitz und zunehmend von globalen Immobilientrusts regiert wird, sind ernsthafte Stadtgestaltungsversuche ins Leere gelaufen. Phänomene wie Schlafquartiere, verödete Innenstädte, monotone Banlieues, Gentrifizierung, infrastrukturschwache Siedlungen, asoziale Verdichtungen, der Bau von repräsentativen Hochhäusern, extreme Funktionsteilungen (Businessdistrikte, Vergnügungszonen, Shopping-, Kunst-, Bildungs-, Fashionmeilen) usw. gehen auf die Verwertungsstrategien des Immobilienkapitals zurück. Wie soll ein Gemeinwesen sich territorial demokratisch einrichten, wenn seine Flächen der Bereicherung – und zunehmend der Entsorgung von überflüssigem Kapital – dienen müssen? Solange das Land, genau so wie Wasser oder Luft, kein Commons ist, kann die kapitalistisch/kommerzielle Dynamik, die heute die Städte bestimmt, nicht durchbrochen werden.

Die Andere Stadt braucht eine andere Wirtschaft
Die Trennung von Lebensfunktionen, die zur Steigerung der Gesamtproduktivität notwendig ist, macht die StädterInnen abhängig von kommerziell bestimmten Versorgungsstrukturen. Die Trennung von Produktion, Konsumation und Wohnen war ursprünglich ein Anliegen wohlmeinender Städteplaner, die die ArbeiterInnen vor den Immissionen der Fabrikschlote retten wollten. Die schmutzige Produktion wurde immer sauberer und automatischer, aber die direkte Kontrolle über die physischen Produktionsmittel ist den Arbeitenden entglitten, was schliesslich auch zur politischen Entmachtung der Arbeiterbewegung führte. Insbesondere gibt es für die StädterInnen keinen Zugang mehr zur Lebensmittelproduktion, was bei einer Krise oder einem Crash noch als Auffangstrategie dienen könnte. Wir erleben die Stadt heute als einen Ort des Ausgeliefertseins an Jobs, an Geldeinkommen, an die Willkür der Finanzmärkte. Das heisst logischerweise, dass wir die Stadt nicht unabhängig von einer neuen Wirtschaftsweise neu erfinden können. Wer sich keine andere Ökonomie vorstellen kann, der kann sich auch keine Andere Stadt vorstellen. Damit stellt sich uns die maximal mögliche Herausforderung: nicht nur lebenswerte Städte zu schaffen, sondern alles zu ändern. Alles ist jedoch viel.

Der Aufstand der Stadtbewohnerinnen
Doch wenn es dann um die konkrete Definition von Institutionen, Eigentumsverhältnissen, Territorien, Ressourcenverbrauch, Verfahrensregeln usw. geht, dann muss man mit schärfster Opposition rechnen. Die herrschende Wirtschaftsweise ist eben eine Wirtschaft der Herrschenden. Die Bewohnerinnen der heutigen Komfortzonen im Norden und Westen des Planeten sehen ihren Lebensstil nicht als Produkt unverschämter Ausbeutung, sondern als erworbenes Recht an. Das gilt selbst für die Linke. Doch Gerechtigkeit ist global oder gar nicht. Es wird keine schönen neuen ökologischen Städte im Norden geben können und zugleich Elends-Megacitys im Süden. Die Rebellion in diesen «ganz anderen Städten» hat schon begonnen. Wir erleben heute einen globalen urbanen Aufstand, der sich gegen die Verheerungen des ebenso globalen Kapitalismus richtet. Irgendwann werden wir nach dem Demos nicht mehr nach Hause gehen, sondern den Aufstand in unsere Nachbarschaften tragen.

Es geht darum, so radikal wie nötig, aber nicht radikaler zu sein. So einfach wie möglich, aber nicht zu einfach – wie Einstein sagte.
Die Andere Stadt ist die Stadt, in der wir gerne leben würden, in der wir uns wohlfühlen würden. Zugleich ist sie aber auch ein Kompromiss zwischen unserer Eigenschaft als Naturwesen und der Entwicklung unserer Zivilisationen.

Wie gross ist die Andere Stadt?
Was heisst gross? Sicher nicht nur 10›000 oder 50›000 Bewohner, sondern viele mehr. Damit eine Stadt sowohl ökologisch wie auch kulturell ein gewisses Potential entfalten kann, muss sie viele Funktionen bündeln können. Sie muss das heute global gültige vollständige Leben bieten. Vielfalt und Nähe machen sie aus. Als Modell für die kooperative Andere Stadt schlagen wir eine grosse Stadt wie Zürich, mit 500 000 EinwohnerInnen, vor.

Was aber geschieht mit den Megacitys vor allem des planetarischen Südens? Soll man sie überhaupt als Städte bezeichnen, oder sind sie nicht eher emergente pseudourbane Siedlungsphänomene? Wenn verarmte Bauern nach Nairobi oder Lagos ziehen, so suchen sie ja nicht primär Stadtleben – Opern, Museen, politische Debatten – sondern einen Zugang zu den Reichtümern oder wenigstens Abfällen der globalen Wirtschaft.

Das Dorf ist keine Alternative
Das kleine Dorf (= äquivalent in der Grösse zur Nachbarschaft) ist als Modell nicht tauglich, weil es zu wenig Vielfalt erlaubt, zu wenig Synergien bietet und verletzlich bleibt. Ein Dorf kann nicht alle notwendigen Dienstleistungen bieten, schafft also zusätzlichen Verkehr. Wollten wir alle zurück aufs Dorf, würde das den ökologischen Ruin bedeuten und fast alles Kulturland vernichten, was wir ja eben in den Agglomerationen und Suburbs beobachten können. Die meisten Dörfer sind heute gar keine in sich lebensfähigen ökonomischen Einheiten mehr, sondern nur noch Feierabend- und Wochenendsiedlungen für PendlerInnen. Das Dorf ist mehr Mythos als Realität.

Die klare Abgrenzung von Kernstadt und Metropolitanregion ist schwierig: die urbanoide Besiedlung geht übergangslos von dichten Blockrandbebauungen über locker herumstehende Mehrfamilienhäuser in paraurbane Streusiedlungen über. Diese Formlosigkeit ist ein Teil der Probleme der Städte. Niemand weiss mehr, wozu er/sie gehört. Kooperation ist fast unmöglich, weil man gar nicht weiss mit wem und bei was. Die Idee liegt nahe, den Siedlungsbrei «aufzuräumen», indem man verdichtete, funktionale Zentren (Quartiere) schafft, die mehr Nähe bieten und zugleich stadtnahes Kulturland etwa für den Gemüseanbau frei machen.

Das Stadtleben ist ökologischer
In der Schweiz sind die Zahlen nicht so extrem, aber StädterInnen leben auch hier ökologischer als LandbewohnerInnen. Das ist vor allem darauf zurückzuführen, dass alles näher ist und so zu Fuss erreicht werden kann. Städter verbrauchen weniger Raum, weniger Energie, sind gesünder, leben länger. Gemäss der Studie des ARE von 2017 verursachen Städter Infrastruktur-Kosten von 1148 Franken pro Jahr, Dorfbewohner aber von 3232 Franken. StädterInnen bewegen sich mehr zu Fuss als LandbewohnerInnen. Für AgglobewohnerInnen gibt es weniger attraktive Ziele in Fussdistanz. Bewegung ist nicht ein Teil ihres Lebens, sondern muss als Wandern, Jogging oder Veloausflug inszeniert werden. StädterInnen wandern nicht, sie gehen einfach, ohne dass sie sich umziehen müssen. Sie merken nicht einmal, dass sie «Sport» treiben, weil das Strassenleben viel Abwechslung bietet. Alle fünf Sekunden etwas Neues, wie Jan Gehl es verlangt.

Drei Module
Die kooperative Stadt ist auf der primären Grundstruktur von lediglich drei Modulen (= funktionalen Räumen) begründet:
• Nachbarschaften (als Bereich der Alltagskooperation)
• Quartier (als Bereich der öffentlichen Kooperation)
• Stadt/Metropolitanregion (als Bereich der zentralörtlichen Kooperation und eines ersten landwirtschaftlichen Kreises, also ca. 50 km Radius)
Wir haben also folgenden Grundraster:
• 500›000 BewohnerInnen in der Kernstadt
• 1000 Nachbarschaften à 500 BewohnerInnen
• 25 Quartiere à 20 000 BewohnerInnen à je 40 Nachbarschaften

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Wie Nachbarschaften und Quartiere strukturiert sind, erfahren Sie in den zahlreichen, allesamt lesenswerten Publikation von Hans Widmer, der unter dem Pseudonym P.M. Kultstatus erreicht hat:
«Nachhause kommen» oder «Das Buch NUR», zu beziehen über www.neustartschweiz.ch.
Der vorliegende Text ist eine stark gekürzte Fassung eines Kapitels aus dem kürzlich erschienenen Buch «Die Andere Stadt» (Paranoia City, 2017. 400 S., vierfarbig. Fr. 50.–). www.paranoiacity.ch

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