Ich habe keine Pensionskasse und keine dritte Säule. Einer Verwandten von mir geht es gleich, und sie hat zudem grosse AHV-Beitragslücken. Als sie sechzig Jahre alt wurde, haben wir zusammen herauszufinden versucht, wie hoch ihre monatliche Rente dereinst sein würde. Wir kamen auf 650 Franken.

Meine Verwandte ist Künstlerin. Auf ihre alten Tage wird sie jetzt also auch Lebenskünstlerin. Oder vielleicht war sie das immer schon. Ich war es nicht immer schon. Bis 27 war ich Akademiker. Ich hatte eine Stelle an der Uni, verdiente mehr Geld, als ich brauchte, kaufte Finanzprodukte mit langem Anlagehorizont, nahm Drogen und war auch sonst ein angepasstes Mitglied der Gesellschaft. Gegen Ende des Doktorats machte sich dann aber die zersetzende Wirkung bemerkbar, die die Beschäftigung mit Philosophie auf einen solchen Lebensstil hat. Anstatt als Postdoc ans Munich Center for Mathematical Philosophy (immerhin am Geschwister-Scholl-Platz) zog es mich als Aktivist auf die Strasse.

In dreissig Jahren lebe ich dann auf der Strasse und bettle um Unterschriften für die Initiative «Nein zur Grenzmauer! Der Klimawandel lässt sich nicht aussperren». Dito in vierzig Jahren, wenn es heisst: «Nein zum Schiessbefehl! Menschenrechte gelten trotz Grenzmauer». In fünfzig Jahren bin ich 85; die Winter sind mild geworden, das Leben auf der Strasse angenehm. Die amtliche Informationsunterbrechung auf den Werbebildschirmen verlautet: «Dank neuer Software (entwickelt von Apple und ETH): 97 % der tödlichen Schussabgaben durch autonome Grenzschutzroboter sind schmerzfreie Kopftreffer.» Meine Grosskinder stehen mit mir um die brennende Abfalltonne, und ich erzähle ihnen von der Zeit, als es beim Widerstand gegen das «humane Töten» noch um Kühe und Küken ging.

Mein Grossvater war Automechaniker. Auch er hatte weder Pensionskasse noch dritte Säule und stand darum noch mit achzig in der Werkstatt und flickte Autos. Ich habe nie mit ihm über Altersvorsorge oder Klimawandel geredet. Aber er mit mir. Zum Abschied sagte er jedenfalls immer: «Tüet, wie i sött!» und lachte.
Meine Eltern sind pensioniert. Mein Vater hat alle drei Säulen, meine Mutter die ersten zwei plus eine Eigentumswohnung. Wenn die Gesundheit einigermassen mitmacht, reicht es finanziell bei beiden für einen geruhsamen Lebensabend. D. h. es reicht auch für altersradikalen Vollzeit-Aktivismus. Darüber rede ich mit ihnen. Und sie reden mit mir über ihre Themen, und wir hören einander zu.

An Silvester habe ich mir vorgenommen, dieses Jahr mit der Altersvorsorge anzufangen. Im Sommer musste ich mir eingestehen, dass ich dafür als Liedermacher und Hansdampf zu wenig verdiene. Also machte ich mich auf Jobsuche. IT-Projektleiter? Werbetexter? Just an dem Tag, den ich mir als Termin für die erste Stellenbewerbung gesetzt hatte, wurde ich angefragt, für den Zeitpunkt einen Text zu schreiben. 250 Franken für 4500 Zeichen. So langsam, wie ich schreibe, gibt mir das einen Stundenlohn von drei Franken. Ich habe sofort zugesagt. Die Jobsuche musste warten. Aus einem Text wurden drei, die Jobsuche wartet immer noch. Hier erreiche ich tausende pensionierte Eltern und tausende Kinder wie mich. Das ist mir als Aktivist wichtiger als Job und Geld.

Mein Vater sagt, von einem Mann in meiner beruflichen Situation wolle keine Frau ein Kind. Ich sage: zwei Fliegen mit einer Klappe; weniger Bevölkerungswachstum und mehr Zeit zum Schreiben. Und obendrein eine Garantie, dass meine düstere Zukunftsvision nie wahr wird: Keine Grosskinder, die mit mir um die brennende Abfalltonne stehen. Nur ich, das Feuer und die Frage: «Hätte ich mehr tun können?»

Die Antwort ist Ja. Ich hätte mehr tun können. 2068 wird das eine bittere Einsicht sein. 2018 ist es eine frohe Botschaft. Ich kann mehr tun. Die Fondsanteile, die ich als Doktorand gekauft habe, sind jetzt 25 000 Franken wert. Die fünf grössten Aktienpositionen laut dem Anbieter PostFinance: Nestlé, Novartis, Roche, UBS, Apple. Ich gehe jetzt auf abs.ch und schaue mich nach Alternativen um. Und dann suche ich weiter nach einem Job.