Auf der Landflucht vor der Natur

25 Millionen Menschen müssen jedes Jahr ihr Zuhause verlassen – wegen Umweltkatastrophen und Klimaveränderung.

(Foto: Klaus Petrus)

Als die Regierung von Papua- Neuguinea im November 2005 entschied, die fast tausend Einwohner der Carteret-Inseln wegen der steigenden Fluten des Südpazifiks umzusiedeln, war plötzlich überall von «Klimaflüchtlingen» die Rede. In den Jahren darauf gewann das Phänomen – wenigstens in gewissen Expertenkreisen – an Bedeutung und die Berichte über Menschen auf der Flucht vor der Natur häuften sich: Überschwemmungen in Bangladesh, Dürren in Somalia, Wirbelstürme auf den Philippinen, versalzenes Grundwasser in Äthiopien. Und mit den schlimmen Katastrophen kamen die kühlen Berechnungen. 25 Millionen Menschen pro Jahr seien betroffen – das ist eine Person pro Sekunde –, bis 2050 würden es 200 Millionen sein, schätzte der ehemalige Chefökonom der Weltbank Nicolas Stern. Dazu gehören nicht bloss «Klimaflüchtlinge», die infolge schleichender Prozesse wie ansteigende Meeresspiegel, schmelzende Gletscher oder Wüstenbildung ihre Heimat verlassen müssen, sondern auch solche, deren Land und Existenz durch akute Katastrophen wie Überschwemmungen, Dürren oder Hurrikans vernichtet wird.

Im Grunde können alle Weltregionen von Umweltkatastrophen betroffen werden. Und doch bekommen sie meistens die Ärmsten der Armen zu spüren.

Hitze, Hunger, Krieg

Im Grunde, da sind sich die Experten einig, könnten alle Weltregionen von Umweltkatastrophen betroffen sein. Und doch bekommen sie meistens die Ärmsten der Armen zu spüren. Beispiel Somalia: Nach Jahren ohne Regen setzte unlängst eine Dürre ein, die in eine Hungerkatastrophe mündete. Über sechs Millionen Menschen waren davon betroffen, davon gelten 700 000 als Binnenflüchtlinge, Hunderttausende flohen nach Kenia. Inzwischen ist offenbar die Hälfte der Bevölkerung von 14,3 Millionen auf Hilfe angewiesen.
Somalia mag in verschiedener Hinsicht als typisch gelten. So flüchten die meisten Umweltmigranten gemäss Studien nicht in sog. Industrie- oder Schwellenländer, sondern versuchen im Land zu bleiben oder wandern allenfalls in die Nachbarländer ab. Auch sind Umwelteinflüsse nur selten die alleinige Ursache dafür, weshalb Menschen ihre Heimat verlassen müssen. Kriege, Krisen oder korrupte Regierungen sind zusätzliche Fluchtauslöser. So mussten im Nordosten Syriens bereits vor Ausbruch des Bürgerkriegs 1,5 Millionen Menschen infolge einer jahrelangen Dürre aus ihrer Heimat fliehen. Nicht zuletzt haben Naturkatastrophen besonders für jene Menschen verheerende Auswirkungen, die – wie in Somalia – von der Landwirtschaft abhängig sind, also für Kleinbauern, Viehhirten oder Fischer. Berechnungen zufolge wird die weltweite Landwirtschaft bei einer globalen Erwärmung von vier Grad um zehn Prozent zurückgehen. Das ist eine Entwicklung unvorstellbaren Ausmasses, wenn man bedenkt, dass drei Viertel der armen Menschen in ländlichen Gebieten zuhause sind und unmittelbar von der Landwirtschaft leben. Dabei ist es nicht bloss so, dass der Klimawandel Armut verursachen oder begünstigen kann. Auch sind die Folgen von Umweltkatastrophen in der Regel umso schlimmer, je ärmer die betroffenen Regionen sind. Es fehlen schlicht die Mittel, um wirksame Massnahmen etwa gegen den Klimawandel zu ergreifen oder sich gegen extreme Wetterverhältnisse zu versichern.

Abwanderung in die Städte begünstigt Klimawandel
Viele Menschen, die auf Grund von Umwelteinflüssen ihre Heimat verlassen müssen, wandern in die Städte ab – oder sie werden von der jeweiligen Regierung umgesiedelt. Manchmal verschafft dies den Betroffenen Vorteile, indem sie oder ihre Kinder neue Erwerbstätigkeiten finden. Tatsächlich werden geplante Umsiedlungen oft als unverzichtbares und auch erfolgversprechendes Mittel erachtet, sich etwa dem Klimawandel anzupassen.

Viele der Umweltkatastrophen sind schleichend und voraussehbar. Wir könnten das Problem ruhig und wohlüberlegt angehen.

Allerdings birgt die Umsiedlung und Abwanderung in die Städte auch Gefahren. So finden Menschen, die traditionell in der Landwirtschaft tätig sind, in Städten häufig keine Arbeit mehr. Auch sind die Wege auf ihre Felder oft derart lang, dass sie ihre Jobs aufgeben müssen. Paradoxerweise treibt die Abwanderung die Menschen in die Städte und die zunehmende Urbanisierung – heute lebt bereits die Hälfte der Weltbevölkerung in Städten – infolge des hohen Energieverbrauchs, der benötigten Ressourcen (wie Holz) und der Verschmutzung den Klimawandel zusätzlich vorantreibt.

Wann ist ein Flüchtling, ein «echter» Flüchtling?
Einfache Lösungen, das wissen im Grunde alle, sind keine in Sicht. Ein grundlegendes Problem besteht darin, dass Umweltmigranten oder Klimaflüchtlinge im völkerrechtlichen Sinne bis heute nicht als Flüchtlinge anerkannt werden. Zwar gelten für jene, die innerhalb ihres Landes bleiben, die UN-Leitlinien für Binnenvertriebene. Sollten sie jedoch die Grenze überschreiten und in einem anderen Land Zuflucht suchen, haben sie z. B. kein Recht auf Asyl.
Entsprechend schlagen manche Experten vor, die Genfer Flüchtlingskonvention um Umwelt- oder Klimaflüchtlinge zu erweitern und so den Betroffenen die bisher fehlenden Schutzrechte einzuräumen. Andere befürchten jedoch, dass eine Neuverhandlung dieser Konvention – besonders im gegenwärtigen politischen Klima – dazu führen könnte, dass die Schutzbestimmungen für Flüchtlinge generell aufgeweicht werden. Eine weitere Möglichkeit bestünde darin, die Klimarahmenkonvention (UNFCCC) zu erweitern. Allerdings fehlt derzeit der politische Wille der Staatengemeinschaft zu einem solchen Schritt.
Zumindest anerkennen die Vereinten Nationen die Umweltmigration inzwischen als Problem an. Auf der UN-Klimakonferenz vom November 2010 in Cancún (Mexiko) wurden Migration, Flucht und Umsiedlung jedenfalls ausdrücklich als Herausforderungen im Umgang mit dem Klimawandel genannt. Auch die Schweiz und Norwegen haben im Oktober 2012 gemeinsam mit der Nansen-Initiative einen Vorschlag unterbreitet, wie sich der Schutz von Menschen verbessern lässt, die infolge von Umweltkatastrophen ins Ausland flüchten müssen. Das Ziel dieser nach dem ersten Flüchtlingskommissar des Völkerbundes Fridtjof Nansen benannten Initiative war es, eine Art Schutzagenda zu erarbeiten, die seit 2016 von der «Platform on Disaster Deplacement» umgesetzt wird.

Migration als Anpassungsstrategie
Dass Umweltmigranten auf rechtlicher Ebene Schutz erhalten, ist die eine Sache. Eine andere ist Hilfestellung auf struktureller sowie praktischer Ebene. Die meisten sind sich darin einig, dass – gerade wenn es um Klimawandel geht – die globale Verantwortung viel gerechter verteilt werden müsste. Will heissen: Die finanzielle Last sollen vor allem die grossen (und reichen) Klimasünder wie Zentraleuropa, USA oder Japan tragen und nicht z. B. Regionen Afrikas, die im Vergleich wenig bis gar nichts zur Entstehung des Klimawandels beigetragen haben, jedoch am härtesten davon betroffen sind.
Unbestritten ist, diese Gelder so einzusetzen, dass die erzwungene Umweltmigration so gut wie möglich verhindert werden kann. Dazu müssen Klimaprogramme etwa zur Regeneration von Wäldern, Wassersystemen oder erodierten Böden erarbeitet und nachhaltig umgesetzt werden. Allerdings wäre es unrealistisch zu glauben, das Problem liesse sich allein dadurch beheben, dass man Umweltmigration begrenzt oder gar vollständig eindämmt. Vielmehr ist die Migration selbst eine Anpassungsstrategie gegen Umweltkatastrophen – und zwar eine, die in den kommenden Jahren und Jahrzehnten immer wichtiger werden wird.
Das ist vielleicht und ironischerweise einer der Vorteile des gesamten Problems: Viele der Umweltkatastrophen sind schleichend und voraussehbar. Es gibt also keinen Anlass zu befürchten, Millionen von Umweltmigranten würden von heute auf morgen ihre Habe packen und vor einer Grenze um Einlass fragen. Nicht alle mögen die Gelegenheit, die Ressourcen und auch die Kraft haben, sich rechtzeitig darauf vorzubereiten. Das gilt besonders für jene, die infolge von Umweltkatastrophen um ihre Existenz fürchten müssen. Jene aber, die nicht direkt betroffen, dafür aber umso mitverantwortlicher sind, könnten das Problem ruhig und wohlüberlegt angehen. Wenn sie denn wollten. 

D. Ionesco u.a.: Atlas der Umweltmigration. Oekom Verlag, 2017, CHF 32.90

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