Chapeau! – für Kamille und Stiefmütterchen

Fast überall auf der Welt sind durch die Corona-Einschränkungen mehr Fälle von häuslicher Gewalt zu verzeichnen – auch wenn diese nicht immer gemeldet werden. Die polnische Schülerin Krystyna Paszko hat eine kreative Initiative ins Leben gerufen, die Betroffenen hilft, ohne sie zu exponieren.

Einer der bedenklichsten Effekte der Coronakrise ist der Anstieg der häuslichen Gewalt. Um sich gegen eine Ansteckung mit dem Virus zu schützen, empfehlen Regierungen und Behörden fast überall, unnötige Kontakte zu vermeiden und möglichst zu Hause zu bleiben. Auf den ersten Blick scheint es, als ob die eigene Wohnung der sicherste Ort der Welt wäre. Doch für Menschen, die mit einem gewalttätigen Familienmitglied zusammenwohnen, verwandelt sich dieser Ort in einen der dunkelsten und gefährlichsten überhaupt – zu einem Gefängnis, dem sie nicht entfliehen können.

Die UNO-Frauenrechtskommission warnte schon letztes Jahr, dass in Notsituationen und Ausnahmezuständen das Risiko von häuslicher Gewalt generell ansteigt. Lockdowns, Homeoffice und andere Einschränkungen, in vielen Fällen gekoppelt mit Unsicherheiten über die berufliche Perspektive, führen zu Stresssituationen.

In vielen Ländern, so auch in der Schweiz, zeigen die offiziellen Statistiken keine signifikante Erhöhung von Fällen häuslicher Gewalt. Allerdings werden laut dem Eidgenössischen Büro für die Gleichstellung von Mann und Frau auch nur 20 Prozent der Fälle überhaupt gemeldet. Seit letztem Jahr dürfte sich diese Situation noch verschärft haben – auch wenn noch keine aktuellen Zahlen vorliegen. Wer mit einem Gewalttäter zu Hause eingeschlossen ist, hat oft nicht die Möglichkeit, Hilfe zu holen – Telefongespräche könnten mitgehört, Nachrichten mitgelesen, Browserverläufe überprüft werden.

Um eine Lösung für dieses Dilemma zu finden, hat sich die 18-jährige Polin Krystyna Paszko etwas sehr Kluges und gleichzeitig sehr Kreatives einfallen lassen. Auf ihrer Facebook-Seite Rumianki i Bratki («Kamille und Stiefmütterchen») bietet sie zum Schein verschiedene Kosmetikprodukte an. Wenn gewaltbetroffene Frauen und Männer – letztere machen in Polen ungefähr zehn Prozent aus – sich per Nachricht melden, wird über eine codierte Sprache kommuniziert, um herauszufinden, inwiefern sie Hilfe benötigen. Wenn jemand zum Beispiel von Problemen mit einer Hautcreme schreibt, die Alkohol beinhalte, ist klar: Da handelt es sich um das Opfer eines gewalttätigen Alkoholikers. Oder wenn jemand von einer Allergie auf ein bestimmtes Mittel spricht, wird nachgefragt, ob auch andere Familienmitglieder darunter leiden.  

Gelesen und beantwortet werden die Nachrichten von Psychologinnen und Juristinnen, die dann von Fall zu Fall entscheiden, wie dem Opfer geholfen werden kann. Wenn jemand ein Kosmetikprodukt bestellt und seine Adresse angibt, wissen sie: Statt einer Creme muss die Polizei geschickt werden. Auf diese Art haben Krystyna Paszko und ihre Mitstreiterinnen schon mehr als 500 Opfern geholfen. Rund 20 davon haben sie in sichere Frauenhäuser bringen können, wie eine Mitarbeiterin von «Rumianki i Bratki» gegenüber der Süddeutschen Zeitung erklärte. Und das Projekt hat Potenzial: Krystyna wurde bereits von Frauen aus Grossbritannien, Australien und anderen Ländern kontaktiert, die das Konzept übernehmen möchten.

Für ihre Einsatz hat Krystyna Paszko den Preis der zivilgesellschaftlichen Solidarität des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses erhalten. Und auch wir ziehen den Hut vor der Schülerin, die trotz ihres jungen Alters mit einer proaktiven, zweckmässigen Lösung auf eine Situation reagiert hat, mit der viele Regierungen zurzeit überfordert sind. Chapeau!