Corona im globalen Süden: Die Katastrophe sind die «Massnahmen»

Milliarden Menschen weltweit wurden seit März Opfer von gewalttätigen Aktionen, mit der Regierungen ihre Ausgangssperren durchsetzen wollen. Jetzt ist die große Stunde der Gemeinschaftsbildung und gegenseitigen Hilfe.

Die Straßenkinder von Kitale mit selbst genähten Masken: in Kenia werden die Maßnahmen mit Polizeigewalt durchgesetzt (Bild: zvg, Leila Dregger)

Madonna irrte. Angesichts des Todes eines Schauspieler-Kollegen hatte sie Corona den «großen Gleichmacher» genannt. Das Gegenteil ist der Fall: Die Corona-Krise verschärft Ungleichheiten. Viele Beobachter sind sich sicher, dass weitaus mehr Menschen an Hunger und staatlicher Gewalt zur Durchsetzung der Maßnahmen sterben werden als an Covid 19.

Ausgangssperren und soziale Distanz sind lebensbedrohlich, wo die Menschen von der Hand in den Mund leben. In Uganda, Peru und vielen anderen Ländern prügelte die Polizei auf Hungrige ein, die an Lebensmittelläden Schlange stehen. In Kenia wurden im Slum Kibera Bewohner durch «Warnschüsse» der Polizei getötet, Kinder bei Razzien zu Tode getrampelt. Auf den Philippinen, in Panama, Kongo, Indien, Brasilien, Israel greifen die ohnehin autoritären Regierungen noch härter durch als sonst. In Thailand werden Schulkinder bestraft und Erwachsene verhaftet, wenn sie in sozialen Medien Regierungsmaßnahmen in Frage stellen. Nur im vergessenen Bürgerkrieg von Kamerun sorgt Corona für Erleichterung: Die frankophone Regierung hat derzeit anderes zu tun, als die englischsprachigen Minderheit zu verfolgen.

Die sozialen Bewegungen sind noch nie so geeint wie jetzt. Die Differenzen sind vergessen.

Auf den Philippinen ließ die Regierung nur wenige Stunden Zeit, die angekündigten Ausgangssperren, Abriegelungen und Stopp der öffentlichen Transportsysteme umzusetzen. Staatspräsident Rodrigo Duterte: «Meine Befehle an Polizei und Militär sind klar: Wenn sie Euch Probleme machen und gar Euer Leben gefährden, schießt sie tot.» Die bekannte Frauenrechtlerin und Schauspielerin Monique Wilson sagt: «Es gibt sehr viele Verhaftungen. Die sozialen Bewegungen waren aber auch noch nie so geeint wie im Moment. Differenzen sind vergessen, alle tun alles, um uns gegenseitig zu schützen. Corona bedeutet für uns auch die Wieder-Auferstehung der Solidarität.»

Die indische Hindu-nationalistische Regierungspartei BPJ hat die Schuldigen für Corona gefunden: die Muslime. Die rigoros durchgesetzte Ausgangssperre sorgte für mehr Todesfälle als Corona selbst. Die Schriftstellerin Arundhati Roy beschreibt die herzzerreißenden Zustände der Wanderarbeiter, die zu Fuß in ihre Heimatdörfer zurückliefen, ohne Geld, ohne Nahrung, ohne medizinische Versorgung, in der Furcht, den Virus mit sich zu tragen. Viele überleben den Gang nicht. Andere werden zurückgetrieben, in Lager interniert, zwangsweise mit Desinfektionsmitteln besprüht. Augenzeugin Roy: «Ich würde ja sagen, dieser Exodus hat biblische Ausmaße, aber niemals hat die Bibel so viele Menschen gesehen.»

In Kolumbien mussten im März ausländische Menschenrechtsbeobachter und Friedensaktivisten das Land verlassen. Oppositionelle, Indigene und Friedensdörfer fürchten ohne internationale Zeugen noch heftigere Gewalt von Paramilitärs und Staat. Das gewaltfreie Friedensdorf San José de Apartadó, in dem in 20 Jahren mehr als 200 Bewohner durch militärische Gruppen umgebracht wurden, setzt wieder permanent Notrufe ab.

Auch in Brasilien macht die Enge in Slums Social Distancing unmöglich. Favelas werden abgeriegelt. Jobs wie Putzen, Kochen oder Kinderaufpassen in den Reichenvierteln fallen komplett weg. Menschen werden mit ihrer Versorgung allein gelassen. Im Viertel Jardim Nakamura, Sao Paulo, starteten Claudio Miranda und seine Familie ein Pilotmodell: die Favela-Karte. Die Verteilung von Grundlebensmitteln geschieht durch eine Art Gutschein-Karte in lokalen Geschäften. Jede Familie kann so monatlich ihre Grundbedürfnisse an Nahrung und Hygieneartikeln in der Nachbarschaft decken. Miranda und sein Team bestücken die Läden und finanzieren dies durch eine weltweite Crowdfunding-Aktion (Wer helfen möchte).

In Selbsthilfe aufgestellte Wasser-Ausgabestelle im Slum von Kitale, Kenia: ohne Wasser keine Hygiene. (Bild: zvg)

Angst vor Corona führt besonders in den Armutsvierteln in Afrika zu großer Verunsicherung. Doch für die meisten gibt es jetzt eine noch größere Angst: Hunger. Philip Munyasia, der seit zwölf Jahren eine Selbsthilfe-Initiative in einem Slum in Kitale in Kenia leitet: «Hier hat niemand Ersparnisse. Zu Hause zu bleiben, wäre der Tod.» Mit seiner Initiative verstärkt er jetzt die Autarkie-Bemühungen. Gemeinsam mit Jugendlichen, Straßenkindern, Fraueninitiativen legen sie mehr Gärten, Regenwasserteiche, Aufforstungen an, sammeln Saatgut, bauen Solarkocher und Biogasanlagen – immer unter Einhaltung des Mindestabstandes. «Die Menschen sind froh, dass sie etwas Sinnvolles zusammen tun und sich selbst helfen können.»
Die Vorschläge von selbsternannte Philanthropen wie Bill Gates zur flächendeckenden Impfung lehnt er ebenso ab wie die meisten Afrikaner: «Wir wollen nicht eure Versuchskaninchen sein.»