Der Mensch hat immer wieder das als falsch entlarvte Alte durch das als richtig erkannte Neue ersetzt. Doch wir brauchen nicht den ultimativ richtigen Plan, sondern eine grundlegend andere Haltung.
Einer der Wege zu dieser Haltung ist die Improvisation als künstlerische Praxis.

Eine Turnhalle voller Leute, die beginnen, sich zu bewegen. Allein, in wechselnden Konstellationen. Ohne Plan oder Choreographie. Niemand weiss, was als nächstes passiert, niemand sagt, was zu tun ist. Zunächst ist es ein wildes Nebeneinander von Aktivitäten, die wenig miteinander zu tun haben – bis sich allmählich eine Stimmigkeit einstellt und sich im Chaos Schönheit und Ordnung offenbaren. Eine eigene Wirklichkeit entsteht. Ich stehe staunend und hellwach da und erkenne: das Ganze ist mehr ist als die Summe seiner Teile. Alle im Raum sind bereit, sich von der Lebendigkeit der Versammelten durchdringen zu lassen und das Ihre beizutragen. Hier werden Entscheidungen getroffen, für die es keine Gesetze braucht oder Standards, was richtig ist und was falsch. Das kann nur aus einer Bereitschaft heraus entstehen, die eigene Wahrnehmung zum Massstab des Handelns zu machen.
Die Menschen in der Turnhalle improvisieren. Ich habe das Gefühl, alle wissen, was sie tun – nur ich nicht. Was hat meine Lehrerin gesagt? Den Boden spüren, der mich trägt, dem Atem lauschen, ankommen. Ich mache also unauffällige Bewegungen und schaue in den Raum. Die Leute beziehen sich aufeinander, Duette entstehen, Trios. Jetzt bin ich in der Mitte des Raumes für alle sichtbar und mir fällt nichts ein, wie ich mich bewegen könnte, damit es nur annähernd so originell aussähe wie bei allen anderen.

Es gibt manche Strategien, uns dem Nichtwissen nicht auszuliefern. Die meisten sind so sehr auf externe Massstäbe konditioniert, dass wir die Freiheit, die uns der improvisatorische Raum öffnet, gar nicht aushalten. Wir schielen, wie es die anderen machen, fürchten aufzufallen, zu scheitern, nicht originell zu sein – oder aber mit zu viel Originalität anders zu erscheinen und nicht mehr dazuzugehören. Wir balancieren zwischen nicht genug und zu viel. Wir fühlen uns verloren und sehnen uns nach Anhaltspunkten, Regeln, Vorbildern. Wir wollen es richtig machen. Und verleugnen uns in dieser Anpassungsbereitschaft, weil wir es kaum anders kennen.

Und wie lernt man zu improvisieren? «Die einzig mögliche Antwort besteht aus der Gegenfrage», schreibt Stephen Nachmanovitch in seinem Buch «Free Play»: «Was hält uns davon ab?» «Spontanes Schaffen kommt aus unserem tiefsten Wesen, es ist unser Selbst – echt und unbefleckt.» Die Kreativität bestehe darin, die Hindernisse, die den natürlichen Fluss blockieren, zu entfernen. Wir können lernen, uns selbst zu beobachten: bei unseren Mustern, Vorlieben, Ängsten; bei der Annahme, es gebe Erwartungen, die wir erfüllen müssen; beim Eifer, es richtig machen zu wollen. Bewerten, Bessermachenwollen und Immernochnichtrichtigsein können uns in die Optimierungsfalle tappen lassen. Mit Geduld und Übung können wir Beobachten und Bewerten voneinander unterscheiden.
Aber was mache ich, wenn ich in dieser Turnhalle stehe und nicht weiss, was tun? Genau das beobachten: das Nichtwissen und das Stehen. Die Leere ist der Moment mit dem grössten Potential. Ich kann üben, die Diszi­plin aufzubringen, ein wenig länger zu bleiben, obwohl es sich fast bodenlos anfühlt. Doch der Boden ist immer noch da. Ich spüre ihn unter meinen Füssen, nehme die Schwerkraft wahr, verfolge mein Gewicht beim Nach-unten-Fallen, bis ich weiss, wohin sich dieses Fallen ausrichtet. Ich spüre einen gewaltigen Sog in mir, und eine Gegenkraft richtet mich auf und strebt nach oben. Zum ersten Mal in meinem Leben empfinde ich den Abstand zwischen Sohlen und Scheitel und beginne, mit diesem weiten Raum zu spielen, der mein Körper ist. Alle können sehen, wie ich mich dem Wahrnehmen widme. Ich beginne, Elemente von anderen zu übernehmen, aus der Lust am Variieren, Mitschwingen, am Ausprobieren des Andersartigen, nicht aus dem Gefühl, mich korrigieren, zurücknehmen oder anpassen zu müssen. Was für eine Erleichterung. Was für ein Lernfeld.

Improvisatorische Räume sind Orte politischen Lernens und Forschens – hier sehen wir, wie ein Miteinander gelingt, das auf Wahrnehmung beruht statt auf Vorschriften. «Wenn diese Naturgesetze unsere Verfassung sind, haben wir keinen Bedarf an Gesetzgebung», schreibt Nancy Stack Smith, tänzerisch improvisierende Philosophin. Damit benennt sie das politische Potential des Schulungsweges Improvisation: Wenn wir unsere Wahrnehmung dessen, was ist, verfeinern, brauchen wir die Unterscheidung von Richtig und Falsch nicht mehr. Dieses Erleben auf unser gesellschaftliches Miteinander zu übertragen, erfordert Mut und Visionskraft. Der Publizist und Mystiker Arnaud Desjardins brachte es auf den Punkt: Das Gesetz verlangt von uns, das zu tun, was wir ganz von selbst tun würden, wenn wir Liebe besässen. Der Weg besteht darin, die Liebe wiederzufinden, die dann zum Gesetz wird.
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Heike Pourian, Jg. 1967, dipl. Kulturpädagogin, lebt in Nürnberg. Sie ist Tänzerin und Tanzpädagogin und Autorin des Buches «Eine berührbare Welt». Kern und Herzensanliegen ihrer Arbeit ist es, die improvisatorische künstlerische Praxis als Übungs- und Experimentierfeld für den gesellschaftlichen Wandel zu betrachten. www.beruehrbarewelt.de

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