Habe ich richtig gehört?

Erfährt man etwas Unglaubliches, will man seinen Ohren nicht trauen. Oder man lässt sich von Nebensächlichem beeinflussen, ohne dem Inhalt die nötige Aufmerksamkeit zu schenken. Hören will gelernt sein!

Illustration: Aditi Desai

Einer wissenschaftlichen Untersuchung zufolge achtet ein Mensch nur zu sieben Prozent auf den Inhalt des Gesagten. Fast 40 Prozent der Aufmerksamkeit richten sich auf die Stimme und den Tonfall, der Rest auf Mimik und Gestik. Wir könnten uns also von einem geschulten Redner leicht täuschen lassen, wenn wir uns nur auf unsere Sinne verlassen und den Fokus nicht bewusst auf den Inhalt der Worte lenken würden. Das ist erschreckend! Hinzu kommt noch ein anderer Aspekt: In einer Kultur, die zu grossen Teilen schriftlich kommuniziert und ihr Wissen aus Büchern statt aus mündlicher Überlieferung bezieht, verkümmert sowohl die eigene Fähigkeit zum ausdrucksvollen Sprechen als auch die Fertigkeit, feine Unter- und Zwischentöne in den Stimmen anderer wahrzunehmen.

Nun gibt es Leute, die glauben Stimmen zu hören. Das ist selten und in der Regel ein pathologisches Phänomen. Dann gibt es Menschen, die über ein ausserordentlich feines Gehör verfügen. Das ist vor allem für Musiker von Vorteil. Und schliesslich gibt es jene, die unabhängig von der Qualität ihres Hörvermögens äusserst feinnervig auf Stimmen reagieren. Dazu gehöre ich.
Kürzlich sah ich einen Film in der englischen Originalversion, den ich zuvor nur in synchronisierter Fassung gekannt hatte. Anfangs haderte ich mit mir. Der Hauptdarsteller, ein britischer Schauspieler – mit sämtlichen Preisen und Auszeichnungen bedacht und zu den besten seiner Zunft zählend –, hatte nie zu meinen Favoriten gehört. Schlimmer noch, seit mehr als zwanzig Jahren hatte ich eine gewisse Aversion gegen ihn gehegt. Trotzdem entschied ich mich für den Film – aus rein cineastischen Gründen. Gleich in einer der ersten Szenen tritt der Protagonist auf, ... agiert ... und beginnt zu sprechen. Ich war fassungslos! Da stand ein ganz anderer Mann als jener, den ich bisher zu kennen geglaubt hatte. Ich war mir gewiss, hier einen ganz Grossen seines Metiers zu erleben. Und er war mir ausgesprochen sympathisch. Was war passiert?

Meine Antipathie hatte offensichtlich der deutschen Synchronstimme gegolten. Aber warum? Und wer ist es, der hier spricht? Die Antwort war schnell gefunden, und als ich den Namen las – ebenfalls einer der ganz Grossen, aber auf deutschsprachigen Bühnen –, erinnerte ich mich an eine unerfreuliche Begegnung, die ich längst vergessen geglaubt hatte: Als junge Fernsehjournalistin drehte ich in den Achtzigerjahren am Berliner Schillertheater einen Magazinbeitrag über eine anstehende Premiere. Eine der Hauptrollen war mit einem Schauspieler besetzt, der das Filmteam und mich permanent reglementierte und diskreditierte. Er drohte, die Proben zu verlassen, sollten wir weiterhin «stören». Der Regisseur nahm mich zur Seite und entschuldigte sich, aber ich fühlte mich dennoch verletzt, zu Unrecht beschuldigt von einem, der sein Ego nicht im Zaum halten konnte.
Kurz darauf ging ich von Berlin weg, besagter Schauspieler wechselte bald ans Burgtheater. So ergab sich keine Gelegenheit, erneut aufeinanderzutreffen. Ich hatte ihn längst vergessen, dachte ich. Und doch wirkte seine Stimme nach, erfüllte mich noch Jahre später mit Unbehagen, ohne dass mir die Ursache bewusst war.
Diese Erkenntnis hat mich anfangs völlig irritiert. War ich nachtragend gewesen? Hatte ich gegenüber dem britischen Schauspieler Vorurteile gehabt? Von beidem konnte ich mich schnell exkulpieren, schliesslich war meine Aversion kein Akt bewussten, reflektierten Denkens oder Handelns. Ich war instinktiv einem bioakustischen Signal gefolgt, das sich nach einer negativen Erfahrung tief verankert hatte und mich nun warnte: Vorsicht!.

Dem selbst vollzogenen Freispruch folgten jedoch andere Gedanken. Warum wird mein Verhalten derart unkontrolliert gesteuert? Was machen Stimmen eigentlich mit uns? Wie wirken sie auf uns? Schenkt man einer angenehmen Stimme mehr Vertrauen, unabhängig vom Gesagten? Welchen Einfluss hat die auditive Wahrnehmung? Sie ist stärker als vermutet und vermag uns massiv zu täuschen, das bestätigen Neurowissenschaftler und Psychoakustiker. Deshalb: «Schärft Eure Sinne, übt hören!» 

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