Nicht der Verbraucher trägt die Schuld

Dank Corona sind die katastrophalen Zustände in deutschen Schlachthöfen wieder einmal Gegenstand von Debatten. Wieder einmal wird die Verantwortung für die Misere zwischen den Zeilen dem Verbraucher zugeschoben, der angeblich ja die Macht habe, an den Zuständen etwas zu ändern. Das ist zynisch und feige. Der Gesetzgeber hat die Missstände ermöglicht und ist nun dafür verantwortlich, diese Missstände auch wieder abzuschaffen.

Wer heute ein mündiger Verbraucher sein will, braucht sehr viel Zeit und Energie. Sicher, es ist nicht unmöglich, ethisch korrekt und nachhaltig einzukaufen. Man kann sein Fleisch vom Bio-Schlachter kaufen, sich sein Obst und Gemüse in regional verwurzelten ökologisch korrekten Hofläden besorgen und vor jedem Kauf eines Konsumprodukts ausgiebig im Internet dessen ökologischen Fußabdruck und die ethischen Bedingungen über die gesamte Produktionskette recherchieren. Wer über sehr viel Tagesfreizeit verfügt und gewillt ist, sich intensiv in sehr komplexe Themenbereiche einzulesen, und nicht zuletzt auch über das nötige Kleingeld verfügt, sich diese oft doch recht teuren Produkte leisten zu können, kann dem Ideal des mündigen Verbrauchers schon sehr nahekommen. Doch wer hat so viel Zeit, Energie und Geld?

Auch Otto Normalverbraucher verurteilt die Zustände in deutschen Schlachthöfen, will durch den Kauf von Lebensmitteln nicht den Lebensraum der letzten Orang-Utans zerstören oder Produkte kaufen, die mit einem unnötig hohen Einsatz von nicht regenerativen Ressourcen hergestellt wurden. Er will kein T-Shirt kaufen, das in einem “Sweat-Shop” in Indien oder Bangladesch genäht wurde und hätte auch lieber Fleisch von Puten, die keiner Breitbandantibiotika-Behandlung unterzogen wurden. Das große Problem: Der Kunde hat in der Regel gar nicht die Möglichkeit, die positiven und negativen indirekten Produkteigenschaften in Erfahrungen zu bringen und kauft am Ende doch oft genau die Produkte, die er eigentlich gar nicht haben will.

Doch welcher Kunde erfragt zunächst für jeden einzelnen Artikel die Kontrollnummer, checkt diese dann online über sein Smartphone und zieht sich damit freiwillig dem Groll der Schlange stehenden anderen Kunden zu?

Bleiben wir bei Fleischprodukten. Wenn ich an der Fleischtheke im Supermarkt ein Schnitzel oder ein Stück Leberwurst kaufe, weiß ich nicht, woher das Fleisch kommt, welche Haltungsform dahintersteht und in welchem Schlachthof das Tier zerlegt wurde. Sicher, der Gesetzgeber hat da vorgesorgt. Bei aktivem Interesse ist das Thekenpersonal verpflichtet, dem Kunden die dazugehörigen Informationen auszuhändigen. Dann ist der Verbraucher in Besitz von kryptischen EU-Betriebs- oder -Kontrollnummern. Kommt das Schnitzel aus dem Betrieb mit der Nummer EV 917, wurde das Schwein bei Tönnies in Rheda-Wiedenbrück zerlegt. Die Politik macht sich letztlich nur einen schlanken Fuß, indem sie die angemahnte Transparenz zwar zum Teil ermöglicht, dies aber mit einem größtmöglichen Aufwand für den Kunden verbindet; wohlwissend, dass kaum ein Kunde bereit ist, diesen Aufwand auch wirklich auf sich zu nehmen.

Den Handel freut’s. Während auf jeder Zigarettenschachtel bebilderte Warnhinweise zu finden sind, hat der Kunde beim Schnitzelkauf an der Fleischtheke das Gefühl, ein regionales, ethisch korrektes Produkt zu erwerben. Noch nie war Wegsehen so einfach. Otto Normalverbraucher will zwar gute Produkte, ist in der Regel aber auch nicht bereit, dafür einen unnötig großen Aufwand zu betreiben. So lange Industrie und Handel nicht gezwungen werden, den Verbraucher mit der Nase auf diese Informationen zu stoßen, wird sich auch am Konsumverhalten so schnell nichts ändern.

Man darf dabei auch nicht vergessen, dass der Verbraucher ein David ist, der gegen einen Goliath ankämpft. Auf jeden Bericht über Kinderarbeit, abgeholzte Regenwälder, gequälte Schweine und ausgebeutete Arbeiter kommen mindestens 1000 Anzeigen und Werbespots der Hersteller und des Handels, die unsere Bedenken wegwischen wollen. Da geht es dann um Gefühle, die mit dem Konsum des Produkts vermittelt werden. Lebensfreude pur für Bratmaxe-Grillwürste, wer denkt da an das gequälte Schwein und den Niedriglöhner aus Bulgarien, der ihm das Bolzenschussgerät an die Schläfe gehalten hat?

Wen wunderts da, dass der Verbraucher am Ende denkt, dass das Schnitzel vom glücklichen Schwein auf dem Bauernhof kommt?

Stattdessen sehen wir – wenn überhaupt – glückliche Schweine auf Bauernhöfen, die es so nur in der Fantasie von Werbetreibenden gibt, bodenständige Fleischermeister, denen man gerne vertraut und natürlich jede Menge glückliche, unkritische Kunden. Wer will da schon den Miesepeter geben und irgendwelche EU-Nummern recherchieren, um diese Seifenblase zum Platzen und sich selbst in einen Gewissenskonflikt zu bringen? Man setzt auf den kritischen Verbraucher und lässt gleichzeitig Industrie und Handel mit einem Milliarden-Werbebudget auf ihn los. Wen wundert es da, dass er am Ende denkt, dass das Schnitzel vom glücklichen Schwein auf dem Bilderbuchbauernhof und Schokolade aus lila Kühen kommt?

Wer trägt nun die Verantwortung? So groß die politische Aufregung über Tönnies ist, so klar muss man festhalten, dass Tönnies offenbar gegen keine Gesetze und Vorschriften verstoßen hat. Im Gegenteil. Die Politik hat vielmehr über die Jahre hinweg die Gesetze und Vorschriften genau so ausgeweitet, dass das “System Tönnies” im legalen Bereich Profite erwirtschaften kann. Nicht alles, was legal ist, ist auch rechtens. Aber an die gesellschaftliche Verantwortung eines Schweinebarons zu appellieren, ist ungefähr so sinnvoll, wie einem Kater Vorträge über das Mäusewohl zu halten. Und Tönnies ist ja nur die Spitze des Eisbergs und allenfalls ein Symptom und nicht die Ursache.

Wir sollten uns daher so schnell wie möglich vom Gedanken verabschieden, dass der Markt schon dafür sorgt, dass irgendwann einmal ethisch und ökologisch einwandfreie Produkte in unseren Einkaufswagen landen. Das Interesse des Wolfes ist es, sich den Bauch vollzuschlagen. Das Wohl der Lämmer spielt für ihn keine Rolle. Genauso ist es das Interesse eines Konzerns, Gewinne zu erwirtschaften. Tönnies, Nestlé oder KiK sind schließlich keine dem Gemeinwohl verpflichteten Genossenschaften, sondern lupenreine Renditemaschinen, in deren Gewinn- und Verlustrechnung für Ethik und Moral kein Platz ist.

Hier ist der Gesetzgeber gefragt. Wer sich weigert, strengere Gesetze zu verabschieden, und die Verantwortung stattdessen auf den Verbraucher schiebt, handelt unlauter und ganz im Sinne der Konzerne, die genau wissen, dass der Verbraucher weder gewillt noch in der Lage ist, wirklich kritisch und mündig zu sein.