Wer traut sich heim?

«Heimat» ist ein Begriff, der für die Linke über viele Jahrzehnte nur mit Spiessbürgertum verknüpft war und einen negativen Geschmack hatte. Gegenwärtig wird wieder viel über Heimat diskutiert – der Ausdruck darf ruhig weiter renoviert werden.

Bikd: wikimedia Commons

Mutet Kuhglockengeläut heimatlich an? Warum nennt sich eine Ostschweizer Hanfzigarette «Heimat»? Heimatphantasien und Heimatgefühle haben mit individuellen Vorstellungen und Erlebnissen zu tun und setzen sich nicht rational zusammen. Die Erwartung an ein solches Gefühl ist überliefert, somit ist sie auch veränderbar.

In seinem berühmten Fragebogen IX formulierte Max Frisch:

«4. Was bezeichnen Sie als Heimat:
a. ein Dorf? b. eine Stadt oder ein Quartier darin? c. einen Sprachraum? d. einen Erdteil? e. eine Wohnung?»
Die Auswahl an Antworten zeigt, dass Heimat nicht einmal geographisch einfach zu fassen ist. Max Frisch kritisierte – ganz ähnlich wie der nach Paris ausgewanderte Schriftsteller Paul Nizon –, dass in der Enge der Schweizer Kleinstädte kein kulturelles Leben aufblühen könne. Ländliche Gegenden galten automatisch als hinterwäldlerisch, als Gegenbild wurde die kulturelle Blüte von Grossstädten wie Paris gelobt.
Nicht nur im letzten Jahrhundert taten sich Intellektuelle schwer, sich in der Schweiz daheim zu fühlen. So twitterte Hazel Brugger unlängst: «Heimat ist der Ort, wo die Leute herkommen, die du im Urlaub nicht sehen willst.» Und der Schriftsteller Lukas Bärfuss kam in alle Medien, als er sich 2015 in der Frankfurter Allgemeinen empörte: «Meine Heimat ist wahnsinnig.»

Neben Kritik hören wir aber mittlerweile auch leisere, differenziertere Töne, denn die Folgen der Globalisierung und die Landflucht der Städter haben Frischs berechtigte Kritik relativiert. Heute ist man nicht mehr out oder SVP-Mitglied, wenn man über die Liebe zur Heimat spricht. So widerspricht der Schriftsteller Pedro Lenz diesem Bild der rückständigen Schweiz in einem Blick-Interview: «Wir sind eine urbane Nation, auch wenn wir uns als Ländler ausgeben. Ich setze diesem veralteten Bild auch mit dem Film ‹Mitten ins Land› eine offene und integrative Schweiz entgegen. Ich will darin zeigen, dass Menschen aus der ganzen Welt unser Land gestalten.» (23.2.2015)

In einer Zeit, in der viele Menschen auf der Flucht sind und kein Dach mehr über dem Kopf haben, darf auch wieder über die gute Seite der Schweiz als Heimat nachgedacht werden. Der Schriftsteller Jean Améry wusste, wovon er sprach, wenn er sagte: «Heimat stiftet Identität, verlorene Heimat raubt sie.» Als KZ-Insasse im Dritten Reich hatte er Heimatlosigkeit in ihrer brutalsten Form durchlitten.
Gerade weil so viele Menschen am Fehlen eines gemütlichen Heims leiden, bildet der Beitrag «Concepts of home» des kanadischen Philosophieprofessors James A. Tuedio eine einleuchtende Erweiterung in dieser Diskussion. Wie er betont, spielt meistens der Sicherheitsaspekt eine sehr wichtige Rolle in Heimatkonzepten. Er plädiert dafür, dass es gesünder wäre, dieses gemütliche Bild mit dem Aspekt der Veränderung und Transformation zu ergänzen – in seinen Worten: «Why not think of home as a cradle of change and transformation?»

Vielleicht ist das der zentrale Punkt, der die Geister scheidet: Dem Bild der konstanten, zu bewahrenden Heimat steht eine Sehnsucht gegenüber, die eine Offenheit für Veränderungen integriert und gutheisst. Die Kunst besteht darin, eine fruchtbare Diskussion zu führen, was genau bewahrt und was verändert werden soll. Eine transformative Heimat ist letztlich die realistischere Version, denn eins verbindet uns alle: Irgendwann müssen wir uns ins unbekannte Land heimtrauen, ob wir das wollen oder nicht. So singt der österreichische Liedermacher Wolfgang Ambros etwas makaber:
heite drah i mi ham
schneid ma d pulsadern auf
lieg im wormen wossa drin
und lass meim ormen bluad sein lauf.    

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Literaturangaben:
Paul Nizon: Diskurs in der Enge. Aufsätze zur Schweizer Kunst. Kandelaber, Bern 1970.
Max Frisch: Fragebogen, Frankfurt am Main 1988.
Hermann Bausinger: Heimat in einer offenen Gesellschaft: Begriffsgeschichte als Problemgeschichte.
In: Will Cremer, Ansgar Klein (Hrsg.), Heimat
(pp. 76–90). Bielefeld 1990.
Jean Améry: Wieviel Heimat darfs denn sein? In: Schuld und Sühne. Bewältigungsversuche eines Überwältigten, Stuttgart 1966.
James A. Tuedio: Thinking about home.
Link: bit.ly/2mUw7Ud

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