3 Fragen an Konfliktologe Roman Mendelev

Als Konfliktberater hat man zu Corona-Zeiten wohl einiges zu tun. Privat und beruflich sind viele Menschen während dieser Krise an ihre Grenzen gekommen. Roman Mendelev, im russischen Sankt Petersburg geboren, ist Konfliktologe, Trainer in der Erwachsenenbildung, systemischer Coach und Dozent in verschiedenen Bildungsinstitutionen. Seine Lieblingsthemen sind Persönlichkeitsentwicklung, Konfliktmanagement und soziale Kompetenz. Die derzeitigen Konflikte in der Gesellschaft, etwa in der Schweiz oder in Deutschland, umschreibt der 44-Jährige, der in Hamburg lebt, als Konflikte, die eigentlich innere Konflikte sind, die die Menschen nun austragen. Weswegen er auch empfiehlt, die jetzige Zeit zu nutzen, um sich selbst weiterzuentwickeln. Er selbst strebe nach Ganzheit und wolle ein Homo Beatus werden – ein glücklicher Mensch.

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Zeitpunkt: Mit Corona ist nicht nur eine Krankheit in unser Leben gekommen, sondern auch viele Konflikte sind innerhalb der Gesellschaft entstanden. Wieso? Oder schwelten sie schon vorher?

Roman Mendelev: Corona hat viele starke Ängste an die Oberfläche gebracht. Zum Beispiel die Angst vor dem Tod, Angst krank zu werden, schwach oder ohnmächtig zu sein, sich nicht helfen zu können, Angst vor Kontrollverlust. Angst vor Chaos und Anarchie, wo dann die Ordnung, Strukturen und Regeln nicht mehr existieren. Ängste vor Armut, Hunger, Krieg, Obdachlosigkeit und so weiter und so fort. Menschen malen sich im Kopf viele verschiedene Szenarien der Zukunft aus und versuchen etwas dagegen zu unternehmen. Wenn Menschen diese Ängste spüren, sind sie im Stress. Kleinigkeiten, Missverständnisse, Ungereimtheiten, Widersprüche, die vor Corona lediglich unangenehm waren, verursachen jetzt stärkere emotionale Reaktionen wie Ärger, Wut, Zorn, Hass. Diese Gefühle mag keiner in sich selbst tragen und sie werden oft an anderen Menschen abreagiert.

Meiner Meinung nach sind alle Konflikte innere Konflikte. Die beginnen in uns drin, und wir tragen die nach aussen. Corona ist nur ein Auslöser, so wie ein Funken einen Brand entfacht. Wir bestehen aus Konflikten, da es für uns sehr schwer ist, weder uns selbst noch andere Menschen und die Umwelt so zu akzeptieren, wie sie sind. Wir wollen, dass alles unserem Idealbild entspricht, das wir uns ausgedacht oder übernommen und auf ein hohes Podest gestellt haben, und jetzt anbeten. Es wird nie alles so sein, wie wir es wollen. Wir werden darunter leiden, und dieses Leid weiter nach aussen tragen. Wenn die Menschen Angst haben, werden sie immer jemanden finden, der dafür verantwortlich gemacht werden kann. So entstehen Feindbilder.

Was auffällt, ist der scharfe Ton und zum Teil die Aggressivität zwischen Massnahmengegnern und Massnahmenbefürwortern.

Menschen wollen überleben. Das ist der stärkste Instinkt in uns. Menschen werden sich selbst und ihre Grenzen schützen, und je grösser der Druck wird, desto mehr Gegendrück entsteht. So eine «Feder» kann nur mit viel Mühe von aussen gespannt gehalten werden und die Energie (Aggressivität) wird immer wieder rauskommen. Hier hilft vor allem Kommunikation. Menschen sollten miteinander reden und versuchen einander zu verstehen. Um tolerant zu sein, braucht man Empathie und Verständnis. Die kann man sich in einem Gespräch erarbeiten. Wir sind in einem Boot, alle haben Ängste, Zweifel und unerfüllte Bedürfnisse, reden wir darüber.

Werden die derzeitigen Konflikte in der Bevölkerung, etwa in Deutschland und in der Schweiz, weiterhin anhalten? Wird die drohende Impfpflicht sie nicht zudem anheizen?

Ja. Wir sind alle verschieden, wir haben unterschiedliche Werte, Erfahrungen, Meinungen, Erwartungen und kulturelle Hintergründe. Ich möchte noch einmal betonen: Die Konflikte sind in uns drin. Solange wir uns selbst nicht zumindest akzeptieren – ich rede gar nicht von lieben –, werden wir immer in uns und in der Aussenwelt etwas finden, was uns nicht passt und in uns eine Abneigungsreaktion und Ärger auslöst. Eigentlich ist es jetzt ein guter Zeitpunkt, um sich in dieser Situation persönlich auch weiterzuentwickeln, kurzum: dass jeder schaut, wo und wie er sich während der Pandemie weiterentwickeln kann. Wenn Corona wieder verschwindet oder sich abschwächt, werden unsere eigene Konflikte nicht weggehen, die werden latenter, und wir schlafen wieder ein. Jetzt spüren Menschen, dass in ihnen und um sie herum etwas passiert. Jetzt könnte ihnen bewusst werden, dass sie, um das eigene Leiden zu reduzieren, etwas an sich verändern sollten. So werden wir alle toleranter, freundlicher und humaner gegenüber den Anderen. Wenn erst mal jeder vor seiner eigenen Haustür kehrt, wird es überall sauber.

Bei Einführung einer Impfpflicht wird «die Feder» für einige Menschen weiter angespannt. Diese Menschen werden wohl noch mehr und aggressiver protestieren und kämpfen, um ihre Grenzen, ihre Freiheit und Unabhängigkeit zu schützen. Für die Anderen dagegen wird es etwas entspannter und ruhiger. Zu den «Anderen» können auch Impfgegner zählen. Denn: Wenn man alles versucht hat und doch nicht «gewonnen» hat, nehmen nicht selten Demut, Aufgeben, Akzeptanz oder auch Zustimmung den Platz von Wut und Proteste ein.