Annemarie Schwarzenbach, die Rebellin

Mutig, gespalten, lebensfroh und lebensmüde: Die ungestüme Schweizerin war eine abenteuerlustige Reisende. Deren androgyner Stil, Schriften und bewegtes Leben noch weit nach ihrem Tod hinaus zu reden gaben und geben. Annemarie Schwarzenbach aus reichem Haus liess sich nichts vorschreiben – lebte somit ein Leben ausserhalb der Normen. Aus der Serie «Aussergewöhnliche Frauenbiographien».

© CC BY-SA 4.0

Es war im Sommer 1939, in den letzten Wochen vor dem Zweiten Weltkrieg, als Annemarie Schwarzenbach und ihre Genfer Freundin Ella Maillart sich auf die 4000 Kilometer lange Fahrt von Genf nach Kabul machten. Das Ziel war, Schwarzenbach von ihrer Morphiumsucht zu heilen. Zunächst sah es so aus, als ob der Detox-Plan funktionieren würde. Auf ihrem Weg von der Schweiz über Italien bis nach Jugoslawien hielten die Frauen – beide Journalistinnen und Autorinnen – auf Campingplätzen und in kleinen Gasthöfen in Dörfern an. Sie hielten sich von den Städten fern, in denen Drogen erhältlich waren.

«Warum kümmerst du dich um mich?»

Aber dann weiter östlich in Bulgarien, in einem Hotel in der Stadt Sofia, hatte Schwarzenbach ihren ersten Ausrutscher. Plötzlich wachte sie in einem schlechten Zustand auf, war blass und erbrach sich, schreibt Maillart. Und als sie eine leere Ampulle im Badezimmer entdeckte, war klar: Schwarzenbach hatte wieder Drogen genommen. Von da an war die Stimmung angespannt. Auf der Fahrt in die Türkei sprachen die beiden Frauen kaum miteinander, bis sich Schwarzenbach in Istanbul an ihre Freundin wandte und fragte: «Warum kümmerst du dich um mich?» Sie wisse es nicht, antwortete Maillart. Und fügte an: Dass sie nicht mehr sagen könne, ob sie Schwarzenbach liebe, denn sie würde sie verabscheuen, wenn sie sehe, wie sie ihre Gaben verschwende.

Die Frauen schafften es bis Afghanistan. Dort scheiterte die Entgiftungs-Mission schliesslich definitiv: Schwarzenbach verfiel wieder in alte Gewohnheiten, in den Drogenkonsum. Die Genfer Freundin verliess sie frustriert, reiste nach Indien. Diese Reise hielt Maillart in einem Bericht fest, den sie nach dem Tod von Schwarzenbach 1947 veröffentlichte. Darin widerrief sie dann auch die Antwort, die sie im Auto gegeben hatte. «Ich glaube, ich habe sie zutiefst geliebt», schreibt Maillart.

Wer war Annemarie Schwarzenbach? Man stelle sich vor: In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, eine junge Frau, die alleine in den Osten reist, Drogen konsumiert und eine Liebschaft mit einer anderen Frau führt. Alles sehr ungewöhnlich für jene Zeit. Nun: Schwarzenbach war eine erfolgreiche Journalistin, Romanautorin und Fotografin. In nur knapp zehn Jahren schrieb Schwarzenbach etwa 300 Reisereportagen aus Europa, den USA, Asien und Afrika. Obwohl ihre Arbeit von der Tragik des Lebens überschattet wurde, gilt sie bis heute als grosse Künstlerin und schillernde Kultfigur der Schweiz.

Sie wurde 1908 in Zürich als Erbin eines wohlhabenden Geschäftsmannes geboren. Ihre Mutter war die Tochter eines Generals und entstammte der Familie von Bismarck. Schon früh kleidete ihre Mutter, die bisexuell war, Annemarie in Knabenkleidung. Schwarzenbach wird für den Rest ihres Lebens gerne Männerkleidung tragen. Ihr androgyner Glamour hinterliess einen starken Eindruck in den intellektuellen Kreisen, in denen sie verkehrte. Der Schriftsteller Thomas Mann, dessen Kinder mit Schwarzenbach befreundet waren, nannte sie einen «verwüsteten Engel».

Schwarzenbach verbrachte einen Grossteil ihres Erwachsenenlebens als Süchtige, unternahm zwei Selbstmordversuche. Sie hatte zahlreiche turbulente Liebesaffären mit Frauen. Sie hatte ein kompliziertes Verhältnis zu ihrer Familie, die mit den Nazis sympathisierte. Und sie zerstritt sich mit der Familie Mann, die ihr antifaschistisches Engagement für unzureichend hielt. Denn Annemarie Schwarzenbach weigerte sich, den Kontakt zu ihren Verwandten abzubrechen, die die Nazis unterstützten. Diese Entfremdung verletzte sie zutiefst, auch weil sie in Thomas Manns Tochter Erika Mann verliebt war.

Das Schaffen dieser Künstlerin war vielseitig. Sie hinterliess unter anderem eindrucksvolle Fotografien der Hitlerjugend sowie Schriften, die etwa Kritik an der Schweizer Neutralität ausübten oder über zahlreiche Reisen berichteten. Eines ihrer bekanntesten Bücher «Tod in Persien» bezieht sich auf die Jahre, in denen sie als Diplomatengattin in Teheran lebte. Sie war in Persien 1935 eine Zweckehe eingegangen, ihr französischer Mann war ebenfalls homosexuell. Unter anderem dieser Status als Diplomatengattin ermöglichte ihr bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkrieges eine für diese Zeit aussergewöhnliche Reisefreiheit.

Schwarzenbach verbrachte ebenso einige Zeit als freiberufliche Reporterin und Fotografin in den USA. Die Reise mit Maillart nach Kabul muss aber für sie eine besonders beeindruckende Zeit gewesen sein. Wild. Unvergesslich. So lieferten sich die beiden Frauen Verfolgungsjagden mit der Polizei in Aserbaidschan oder flohen vor Beamten an der iranisch-afghanischen Grenze.

Schwarzenbach blieb vorerst in Afghanistan, nachdem Maillart abgereist war. Anfang 1940 kehrte sie schliesslich mit dem Schiff nach Europa zurück. Zweieinhalb Jahre später, im Herbst 1942, starb sie an den Folgen eines Fahrradunfalls in den Schweizer Bergen, ins Sils Maria im Engadin. Sie war erst 34 Jahre alt. Hier endete ihre Reise. Es bleiben ihre Worte: «Reisen ist Aufbrechen ohne Ziel, nur mit flüchtigem Blick umfängt man ein Dorf und ein Tal, und was man am meisten liebt, liebt man schon mit dem Schmerz des Abschieds.»

 

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