Geh nicht mit Tomaten auf den Augen durch die Welt…

Die Natur spiegelt, lehrt und heilt, wenn wir sie nicht nur analytisch, sondern auch mit offenem Herzen wahrnehmen.

© Mirjam Rigamonti

Es ist einer dieser letzten, leuchtend bunten Herbsttage am See. Sonnenlicht reflektiert golden im Wasser, Möwen fliegen durch die Luft, Enten schwimmen im See. Die Badis sind zu, nur noch wenige Menschen sind am Ufer des Wassers. Die Tiere haben sich ihren Raum zurückerobert. Ich fühle mich glücklich, die Welt ist einfach nur schön, harmonisch und vollkommen in ihrer Unvollkommenheit. Ob die Tiere sich dessen bewusst sind? Oder gehen sie genauso blind durch diese Welt, wie viele geschäftige Menschen? Wie anders ist die Welt für kleine Kinder, neu und voller Wunder. Eine Ameise, ein Steinchen, ein Klang, der kleinste Gegenstand lädt zum Entdecken ein. Vielleicht ist das der Grund, weshalb viele Erwachsene gerne mit Kindern zusammen sind: Sie helfen ihnen, sich an intensive Momente zu erinnern, als sie noch mit allen Sinnen und mit dem Herzen wahrnehmen konnten. Damals, als die Welt noch nicht durch das Sieb des Wissens und des Denkens graugefiltert wurde und sie nicht Wissende, sondern Lernende waren.

Die Natur ist eine grossartige Lehrmeisterin. So beschrieb Hermann Hesse, wie «Siddharta» seine Erleuchtung als Fährmann am Fluss erlangte. Auch wenn wir nicht nach Erleuchtung suchen, so kann auch uns ein Fluss sehr vieles lehren. Sein stetes Fliessen beruhigt, und wir erleben uns als Betrachter eines unendlichen Lebens-Kreislaufs ohne Anfang und Ende. Obwohl Wasser weich ist, vermag es ganze Felsen abzutragen, indem es stetig dran bleibt, dort ausweicht, wo der Widerstand zu gross ist, sich neue Wege sucht und trotzdem seine Richtung beibehält. So können auch wir auf friedliche Weise unsere Ziele erreichen.

Viele Menschen lieben den Wald als Ort der Kraft und der Stille. Die in der Erde verwurzelten Bäume, die gegen den Himmel streben, geben uns ein Gefühl von zentrierter Geborgenheit. In Japan wird «Waldbaden» – achtsame Waldspaziergänge – als Therapie gegen Stress und Burnout praktiziert. Inzwischen wissen wir, dass Nadelbäume Stoffe ausdünsten, sogenannte Terpenoide, die für uns Menschen gesund und immunstärkend sind.

Auch die Jahreszeiten halten uns einen Spiegel vor. So zeigt sich der Herbst als ein letztes Aufflammen vor der grossen Winterruhe. Die Flora zieht sich zurück, sammelt Kraft, um im Frühling neu durchzustarten. Viele Tiere halten Winterschlaf, nur wir Menschen führen Tag für Tag das gleiche Leben, sind fast ununterbrochen auf Leistung getrimmt. Jeder Leistungseinbruch, beispielsweise durch Krankheit, wird als störend empfunden und mit Medikamenten niedergeknüppelt. Doch die Natur erinnert uns, manchmal brutal, an ihre ausgleichenden Gesetze. Was wir verursachen, wird ihre Wirkung zeigen und uns konfrontieren. Wenn wir unsere Ressourcen ausbeuten, dann werden wir zum Stillstand gezwungen, indem unsere Umwelt krank wird oder wir selber krank werden.

Viele naturverbundenen Völker hören auf die Natur. Es gibt Indianer, die ihre Jugendlichen nicht tadeln, wenn sie nichts tun, sondern sie sogar zum Träumen ermutigen. «Meine jungen Männer werden niemals arbeiten. Menschen, die arbeiten, können nicht träumen und Weisheit kommt aus Träumen.» So die Worte von Smohalla. Der Medizinmann gehörte den Wanapum-Indianer an, die früher entlang des Columbia River lebten, im heutigen US-Bundesstaat Washington.

Immer noch am See, sehe ich in einer Wasserpfütze, wie die Spiegelung den Himmel auf unsere Erde herunterholt. Wir Menschen streben nach dem Himmel, dabei sind wir schon mitten drin, Bewohner eines kleinen Sterns in einem unendlichen Universum. Was, wenn es sich mit Gott gleich verhält: Wir suchen ihn im Aussen, doch vielleicht ist er schon in uns drin und wir sind Teil seines Bewusstseins.

 

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Mirjam Rigamonti Largey aus Rapperswil in St. Gallen ist Psychotherapeutin, hat Psychologie, Religions-Ethnologie und Ethnomedizin studiert, arbeitet als Kunstschaffende, freie Schriftstellerin und als Friedensaktivistin.

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