Trägerleibchen für alle!

Keine Schaukämpfe, keine Besserwissereien, dafür viel Konzentration: Am vierten Bündner Mädchenparlament in Chur forderten engagiert und kompetent die jungen Teilnehmerinnen Massnahmen für Klimaschutz sowie Prävention gegen Sexismus und sexuelle Gewalt. Ich war Parlamentsdiener vor Ort. Kolumne.

© Yanik Bürkli

Wo sonst mehrheitlich ältere Männer über die Bündner Politik debattieren, trafen sich für einmal rund 70 Oberstufenschülerinnen: Anlässlich des Zukunftstags fand in Chur das vierte Bündner Mädchenparlament statt. Im Saal des Grossen Rates berieten sie in Kommissionen, welche Missstände bestehen und was dagegen zu tun sei. Anschliessend diskutierten sie die Petitionen im Plenum und überreichten die angenommenen Forderungen dem Regierungspräsidenten.

Nebst Petition zum Klima wie CO2-neutrale Schulhäuser und attraktive öffentliche Verkehrsmittel bewegte das Thema Sexismus die Mädchen sehr stark. Eine ihrer Forderungen war, Aufklärung an Schulen früher und intensiver zu betreiben. Dabei solle es nicht primär um die biologischen Fakten der Fortpflanzung gehen. Vielmehr möchten die Mädchen, dass binären Geschlechternormen – hier Mann, dort Frau – entgegengewirkt wird und dass junge Menschen für einvernehmliche Sexualität sensibilisiert werden. Weiter sehen die Mädchen Dringlichkeit in Prävention gegen sexuelle Gewalt. Denn viele Schülerinnen erleben gerade in digitaler Form sehr früh Belästigungen und Übergriffe sowie Diskriminierung, weil sie Mädchen sind.

Verschiedene Mädchen schilderten eindrucksvoll, wie hilfreich es für sie wäre beim Finden und Leben ihrer Geschlechtsidentität und sexuellen Orientierung – besonders wenn sie von der Norm abweichen – ein sensibilisiertes und respektvolles Schulumfeld vorzufinden. Einzig die Frage, ab welchem Alter Gender und Sexualität behandelt werden soll, wurde heiss diskutiert: Stufengerecht und so früh wie möglich, also bereits ab dem Kindergarten, oder sollen diese Themen eher erst ab der vierten Klasse aufgegriffen werden? Jedenfalls: Im Parlamentssaal kamen bei dieser Frage weniger Moralismus und mehr Verständnis für Genderfragen und Entwicklungspsychologie zum Ausdruck als in vielen Voten von gestandenen Politikern und Politikerinnen.

«Victim blaming», Täter-Opfer-Umkehr, als Teil der Schulkultur…

Ein bisschen schockierend fand ich die Hintergründe, als es um die Forderung nach Kleiderordnungen an Schulen ging. Die Mädchen wollen, dass ihre Ausdrucksfreiheit respektiert wird. Ich weiss nicht, ob es dies auch in Schulgemeinden in anderen Regionen gibt, aber in vielen Bündner Schulgemeinden existieren Kleiderregeln, die die Mädchen als diskriminierend und sexistisch erleben. Die jungen Parlamentarierinnen hielten fest, dass zwar in der Verordnung formhalber beide Geschlechter aufgezählt werden, aber dass die Regeln eigentlich am Ende einseitig einschränken. Als Beispiel nannten sie das Verbot von Trägerleibchen, das klar nur auf ein Geschlecht zugeschnitten sei. Weiter kritisierten sie, dass auf sie die Verantwortung übertragen würde, wie Mitschüler und Lehrpersonen auf ihre Kleidung reagierten. Kurzum: Eine züchtige Kleidung solle Mitschüler und Lehrpersonen davor beschützen, abgelenkt oder provoziert zu werden. Das Beste kommt noch: Können Sie sich vorstellen, dass Mädchen, die sich nicht an die Kleidervorschriften halten, an einzelnen Schulen als Strafe ein übergrosses Pranger-T-Shirt mit den Worten «Ich halte mich nicht an die Regeln» tragen müssen? «Victim blaming», Täter-Opfer-Umkehr, als Teil der Schulkultur…

Nun, an diesem Tag in Chur hatte ich die Rolle des Parlamentsdieners. Das heisst, die Vorstösse zusammenzutragen, auszudrucken und zu verteilen, und dafür zu sorgen, dass im Hintergrund alles rund läuft. Mich beeindruckte, mit welcher Frische und Kompetenz die jungen Frauen ihre Anliegen und Meinungen einbrachten. Sie hörten einander zu, suchten das Gemeinsame und benannten, was Sache ist. Keine Schaukämpfe, keine Besserwissereien, dafür viel Konzentration.

Und während ich hektisch die Anträge und Unteranträge zusammenstellte und mit dem widerspenstigen Drucker kämpfte, fragte ich mich, wie denn ein Bubenparlament aussehen würde. Ob sich die Jungs genauso ernsthaft mit ihrem Erleben von Geschlechterrollen, ihren Bedürfnissen nach unbehinderter Ausdrucksweise und Freiheit bezüglich sexueller Orientierung auseinandersetzen könnten? Oder was denn – nebst den Forderungen nach Klimaschutz und nachhaltiger Entwicklung – ihre Herzensthemen wären?

Ich überlege mir grad: Erleben wir etwa in den meisten Legislativen, sei es auf Gemeinde-, Kantons- oder Bundesebene, bereits meist Bubenparlamente, einfach im negativen Sinne? Wo eine Schar von uniformierten und emotional unreifen Männern darüber streiten, wer jetzt das grössere Kuchenstück bekomme, wer länger mit den neuen Rennauto spielen dürfe und wer doch sowieso schon immer «an tumma Siach» gewesen sei?

 

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Nicolas Zogg aus dem Graubünden ist Vater, 50%-Hausmann, Gärtner, Umweltingenieur, Feuerwehroffizier, Universal-Amateur und Feminist. Er war jahrelang bei männer.ch tätig, der Dachorganisation der Schweizer Männer- und Vaterorganisationen. Heute arbeitet er in der Stabsstelle für Chancengleichheit von Frau und Mann des Kantons Graubünden. www.stagl.gr.ch