3 Fragen an Ethikerin Ruth Baumann-Hölzle

Die Corona-Pandemie erforderte vom Bundesrat rasches Handeln zum Schutz von Menschen und Unternehmen. Anfangs musste er sich dafür zum Teil aufs Notrecht stützen. Seit September 2020 legt das verabschiedete Covid-19-Gesetz fest, mit welchen zusätzlichen Massnahmen der Bundesrat die Pandemie bekämpfen und wie er wirtschaftliche Schäden eindämmen soll. Als Reaktion auf die Entwicklung der Krise wurde das Gesetz mehrmals angepasst. Diesen 28. November wird wiederum ein Teil des Gesetzes zur Abstimmung vorgelegt, nachdem zum zweiten Mal ein Referendum zustande gekommen ist. Die Theologin und Ethikerin Ruth Baumann-Hölzle ist Leiterin der Stiftung Dialog Ethik und war jahrelang in der Nationalen Ethikkommission im Bereich der Humanmedizin tätig. Ihr zufolge hat sich während der Coronakrise der Umgang mit dem Bürger und der Bürgerin verändert. «Als was wird der Mensch betrachtet und welche Rolle nimmt der Staat gegenüber der Bürgerin und dem Bürger ein?» Das sind Fragen, die die 64-Jährige in den Raum stellt.

© zvg

Zeitpunkt: Einer der Punkte, den die Gegner des Covid-19-Gesetzes kritisieren, ist die Handhabung mit den ungeimpften Bürgern: Das Gesetz würde die Ungeimpften in der Schweiz diskriminieren, sagen sie. Wie sehen Sie das? Und wie sehen Sie aus Sicht der Ethik generell die Massnahmen während der Coronakrise?

Ruth Baumann-Hölzle: Nun, finanziell schlechter gestellte Personen haben nicht die gleichen Wahlmöglichkeiten zwischen Testen und Impfen wie finanziell gut gestellte. Das sieht man klar bei den Auszubildenden. In diesem Sinne, ja, ist es eine Diskriminierung. Die Bildung hat einen hohen Stellenwert. Den Zugang zur Bildung mit einem Restaurantbesuch gleichzustellen, sprich: die Aktivitäten des Alltagslebens mit den Aktivitäten des «guten Lebens», das ist heikel, hier muss man unterscheiden. Denn Aktivitäten des alltäglichen Lebens haben einen höheren Stellenwert. Wenn es um die Aktivitäten des guten Lebens geht, so sind diese Fragen mit politischer Klugheit anzugehen. Einerseits geht es bei dieser Entscheidung um Gesundheit, andererseits ebenso um das gute Zusammenleben innerhalb der Bevölkerung. Wenn aber ein Teil der Bevölkerung generell einen erschwerten Zugang zu den Aktivitäten des guten Lebens hat, ist dies gesamtgesellschaftlich problematisch.

Die Ethik ist wie eine Helikopterwissenschaft, so nenne ich sie. Wir schauen von oben, was für Fragen aus Sicht der Menschenwürde und der Menschenrechte zur Debatte stehen. Der Entscheid oder die Empfehlung ist dann moralischer Natur. Kurzum: Die grosse Frage aus ethischer Sicht ist, wie verhältnismässig sind die Massnahmen? Wir haben ein erhöhtes Risiko bei Menschen, die älter sind oder Vorerkrankungen haben, wenn sie sich mit dem Coronavirus anstecken. Das ist die Ausgangslage, und dann muss abgewogen werden, welche Entscheidungen und welche Massnahmen getroffen werden müssen. Diese sollten jedoch plausibel sein. Der nächste Schritt ist dann die Umsetzung dieser Massnahmen: Wie soll sie vonstatten gehen? Mit Zwang? Mit Einsicht? Wie wird dabei mit dem Bürger und der Bürgerin umgegangen?

Betrachten Sie den Umgang in der Coronakrise als problematisch?

Ja, das macht mir zurzeit Sorgen. Die entscheidenden Fragen sind für mich: Was für eine Rolle nimmt der Staat gegenüber den Bürgerinnen und Bürgern ein? Und als was wird der Mensch betrachtet? Als urteilsfähige Person, die selber entscheiden kann? Sollen Menschen mit Anreizen zum Impfen gebracht werden? Indem man etwa eine Bratwurst bekommt, wenn man sich impfen lässt, wie zurzeit in Deutschland. Oder indem die Ärzte eine finanzielle Abfindung erhalten sollen wie in der Schweiz, wenn sie einen Patienten zum Impfen überzeugen. Alle Arten von Anreizen, die eben auf Anreiz statt auf Einsicht setzen, find ich problematisch. Im Fall der Ärzteschaft steht dies auch im Widerspruch mit ihrem Berufsethos.

«Der Staat muss seine Entscheide belegen.»

Massnahmen müssen immer begründet und möglichst empirisch mit Fakten belegt werden. Es sind unterschiedliche Situationen, ob ich am Anfang einer Pandemie Entscheide treffen muss, oder zu einem späteren Zeitpunkt. Was wann und wie wirksam ist, das kann ich als Ethikerin nicht beurteilen. Der Staat muss jedoch seine Entscheide belegen. Hat er genügend unabhängige Experten? Fördert er ausserdem den Expertenstreit? Denn nur so kann ich mir als Bürgerin und Bürger selbst ein Bild machen.

Gibt es Punkte im Covid-19-Gesetz, die sie als positiv erachten?

Die Unterstützungshilfen sind natürlich notwendig und ein wichtiger Punkt. Aber es gibt einige andere Punkte im Gesetz, die mich nachdenklich stimmen. So frage ich mich, wie weit ist der Datenschutz gewährleistet, wenn das Covid-19-Gesetz angenommen wird? Immerhin existiert ein Arztgeheimnis. Heute ist es aber so, dass alle wissen dürfen, ob ich geimpft bin. Zum Beispiel die Kellner und Kellnerinnen im Restaurant oder mein Arbeitgeber. Die Daten sind heute das neue Gold, die neuen Diamanten. Wohin gehen diese Daten? Da wünschte ich mir mehr Transparenz, als diejenige, die wir bislang haben. Was mich auch verblüfft, ist, dass der Bundesrat neu Arzneimittel zulassen darf, die nicht von Swissmedic zugelassen worden sind. Weiter steht für mich das Verhältnis vom Parlament zum Bundesrat zur Debatte. Worauf man ein Auge haben sollte: Was für eine Machtausweitung passiert da genau? Wie nimmt das  Parlament seine Verantwortung wahr und was für eine Rolle hat es?

Dem Staat muss ich vertrauen können, dass er mich schützt und bei einer Fremdgefährdung angemessen reagiert. In einer Notsituation braucht er ausgeweitete Handlungsmöglichkeiten. Was ich allerdings zurzeit feststelle, ist, dass wir seit der Coronakrise eine neue Umgangsform erleben – ein neues Verhälntnis zwischen Staat und Bürgerin und Bürger. Betrachten wir dazu den Punkt im Covid-19-Gesetz bezüglich des Grenzverkehrs: Sagen die Schweizer und Schweizerinnen Nein zum Gesetz, werden die Reisen in gewisse Länder wegen fehlendem, international gültigem Zertifikat künftig erschwert sein. Eine Regierung muss für solche Situationen Alternativen zur Verfügung stellen mit einem Plan B und diesen auch vorstellen – für die Wahlfreiheit. Offiziell existiert ein solcher jedoch zurzeit nicht. Ich hoffe dennoch und gehe auch davon aus, dass die Schweizer Regierung diesbezüglich einen Plan B bereit hat. Aber auf was ich hinauswill, im Moment wird von Seiten der Regierung so verfahren, dass es oft heisst: Wenn «das» nicht, dann halt «das» auch nicht. Nicht einmal Kinder sollte man so erziehen.

Zusammenfassend: Während einer Ausnahmesituation sind die Grundwerte nicht ausgesetzt, sondern sie werden bewusst übergangen. Und genau dieses Übergehen muss der Staat gut begründen. Egal, ob der Bürger oder die Bürgerin geimpft oder nicht geimpft ist, zertifiert oder nicht zertifiziert.