Camille Claudel – besessen, inspiriert und verleugnet

Die französische Künstlerin kämpfte ihr Leben lang: mit der patriarchal dominierten Gesellschaft, mit ihrer Familie, die sie für psychisch krank hielt, und mit der Liebe, die sie in den Wahnsinn trieb. Dabei schuf sie Skulpturen, die bis heute beeindrucken und erschüttern. Aus der Serie «Aussergewöhnliche Frauenbiographien».

© César / www.camilleclaudel.asso.fr

«Ich bin hier, weil ich eine Frau bin und frei sein möchte. Weil ich geliebt habe, und weil ich mehr sein wollte als eine Marionette – Herrin meines eigenen Lebens. Und weil ich meinen Meister übertroffen habe. Wegen all dem bin ich hier.» Diese Zeilen schrieb Camille Claudel aus einer psychiatrischen Anstalt. Zwangseingewiesen, sollte die Bildhauerin noch ganze 30 Jahre lang eingesperrt bleiben und schliesslich in der Klinik versterben.

Dabei hatte ihr Leben so hoffnungsvoll begonnen. Schon als Jugendliche zeigte die 1864 im französischen Aisne geborene Camille ein intensives Interesse – wenn nicht eine Besessenheit – am Formen von Skulpturen. Dabei bewies sie nicht nur ein grosses Talent, sondern auch einen akzentuierten, eigensinnigen Stil. Ihr erster grosser Förderer war ihr Vater, der sie und ihren jüngeren Bruder Paul – den später berühmten französischen Poeten Paul Claudel – motivierte und unterstützte. Auf Anraten von Alfred Boucher, einem angesehenen Bildhauer, mit dem Camilles Vater befreundet war, schickte er sie nach Paris, um Bildhauerei zu studieren. Ihre Mutter dagegen war nicht nur skeptisch in Bezug auf die künstlerischen Ambitionen ihrer Tochter, sondern liess sie von Geburt an eine Abneigung spüren, da sie sich einen Sohn gewünscht hatte.

Die 17-Jährige Camille schrieb sich an der Pariser Colarossi-Akademie ein, einer der zwei Kunstschulen, an der Frauen zugelassen waren. Alfred Boucher begleitete sie als Mentor, und ihre Werke – vor allem Büsten und Porträts – fanden schnell Eingang in den «Salon des Artistes Français» und in verschiedene französische Museen. Claudel erlangte einige Bekanntheit in der Pariser Kunstszene und kam so, trotz ihrer eher zurückgezogenen Lebensweise, in Kontakt mit verschiedenen zeitgenössischen Künstlern.

«Ihr müsst mich herausholen aus diesem Milieu. Ich fordere lautstark die Freiheit!»

Die Begegnung mit dem berühmt-berüchtigten Bildhauer Auguste Rodin war ein heftiger, aber unausweichlicher Schicksalsschlag, der den Rest ihrer beider Leben bestimmen würde. Obwohl sie nie von Rodin gehört hatte, geschweige denn sein Werk kannte, war sie im Vorfeld wiederholt darauf aufmerksam gemacht werden, dass ihre Skulpturen sich auf unheimliche Weise ähnelten. Rodin war 24 Jahre älter als Camille und nicht nur als einer der grössten Künstler der Epoche bekannt, sondern auch als Frauenheld. Doch seine Beziehung zu Camille war mehr als nur eine Affäre. Die beiden verband eine Leidenschaft, die schnell so heftig und intensiv wurde, dass sie an wahnhafte Besessenheit grenzte.

«Camille, meine Geliebte, ich spüre den Wahnsinn, der dein Werk sein wird, wenn das so weitergeht. Ich spüre deine schreckliche Macht, und ich kann keinen Tag vergehen lassen, ohne dich zu sehen. Es ist vorbei, ich arbeite nicht mehr, böse Gottheit, und doch liebe ich dich mit Zorn, meine Camille», schrieb Rodin in einem seiner vielen Briefe. Dennoch wollte er sich nicht von seiner langjährigen Frau Rose Beuret trennen, die eine Art Fels in der Brandung in seinem unsteten, impulsiven Leben war. Dies führte zu wiederholten Auseinandersetzungen und Eifersuchtsszenen, und 1886 liess sich Rodin von Camille überreden, einen Vertrag zu unterschreiben. Darin verpflichtete er sich, keine andere Frau mehr anzurühren, Camille zu heiraten, sie als einzige Schülerin anzunehmen und seinen Einfluss geltend zu machen, um ihre Werke in Ausstellung und der Presse gut zu platzieren. Im Gegenzug sollte Camille ihn vier Mal pro Monat empfangen.

Eingehalten wurde die Abmachung von beiden Seiten nur teilweise. Doch eigentlich hatte Camille Rodins Vermittlung gar nicht mehr nötig, da ihre Werke für sich selbst sprachen. Diverse von Rodins Skulpturen wurden ganz oder teilweise ihr zugeschrieben, da sie in seinem Atelier arbeitete. Ihr Leiden verarbeitete sie in diversen Skulpturen, zum Beispiel in «L’âge mûr» («Das reife Alter»), welches die Dreiecksbeziehung zwischen ihr, Rodin und Rose Beuret darstellt: Ein Mann, hin- und hergerissen zwischen einer alten und einer jungen Frau, welche flehend vor ihm kniet, während er ihre Hand loslässt und sich der anderen zuwendet.

1892 traf Camille eine folgenschwere Entscheidung, deren Konsequenzen sie aber bis zum Letzten trug. Sie trennte sich von Rodin und verliess das gemeinsame Atelier. Finanziell und emotional am Ende, schloss sie sich in einer kleinen, chaotischen Zweizimmerwohnung ein und widmete sich mit steigender Besessenheit nur noch ihrer Arbeit. Ihre Mutter und ihr Bruder hielten sie für psychisch krank, doch solange ihr Vater noch lebte, konnte sie auf seine Unterstützung und seinen Schutz zählen.

1905 zerstörte sie einen Grossteil ihrer Werke, angeblich in einem Anfall von Paranoia. Denn sie glaubte, dass Rodin sie zerstören und ihr alles nehmen wollte. Indes liess ihr dieser oft im Verborgenen und über Drittpersonen, finanzielle Unterstützung zukommen. Nach dem Tod ihres Vater 1913 liess ihre Familie sie in eine psychiatrische Anstalt zwangseinweisen, in der sie bis zu ihrem Lebensende bleiben sollte – 30 Jahre lang. Sie schuf kein einziges Werk mehr und wurde vollkommen isoliert. Obwohl die Ärzte grünes Licht für ihre Entlassung gaben, verhinderte ihre Mutter dies und forderte, ihr jeglichen Kontakt zur Aussenwelt zu verbieten, sogar per Brief. «Camille ist gemeingefährlich und darf nie wieder in Freiheit kommen», betonte sie.

In ihren Briefen an ihren Bruder Paul zeichnete Camille ein schreckliches Bild ihrer Gefangenschaft. «Hier müssen alle Arten von grässlichen, gewalttätigen, kreischenden und drohenden Kreaturen in Schach gehalten werden. Kreaturen, die ihre Verwandten nicht mehr ertragen können, weil sie so widerwärtig sind. Doch wie kommt es, dass ich gezwungen bin, sie zu ertragen? Ihr müsst mich herausholen aus diesem Milieu, in dem ich nun seit vierzehn Jahren eingesperrt bin. Ich fordere lautstark die Freiheit!», schrieb sie 1927. Doch erst 16 Jahre später wurde sie erlöst – durch den Tod.

Camille Claudel starb an einem Schlaganfall, der durch Unterernährung ausgelöst worden war, nachdem sie jahrelang vergessen und verleugnet wurde. Erst Jahre nach ihrem Tod schaffte es ihr Bruder, dem Museum im «Hôtel Biron» vier ihrer Hauptwerke zur Ausstellung zu übergeben. Bis heute beherbergt dieses Museum die bedeutendsten Skulpturen sowohl von Rodin als auch von Camille Claudel beherbergt. Besser könnte die Geschichte ihrer Leidenschaft nicht aufgehoben sein als in diesen Räumlichkeiten, in denen ihr Werk vereint wurde – nach all den Spannungen, die die beiden zu Lebzeiten aushalten mussten.
 

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