Der Gärtner von Damaskus – und die Geschichte der grossen Wanderung (Teil 2)

Inspiration und Imagination sind die menschlichen Fähigkeiten, die die Welt im alles entscheidenden Moment in ihren Grundfesten verändern werden. Erst im Rückblick wird man erkennen, was in diesem Zusammenhang wahrhaftige Freiheit im Denken bedeutet. Aus der Serie «Nachrichten aus der Welt von morgen» von Andreas Beers. Teil 2 dieser Geschichte.

© Mia Leu

Wir schreiben den 9. Juli 2264. Der griechische Journalist Sokratis Giolias sitzt ungeduldig an einem der blauen Tische unter den Arkaden des Cafés الوطن (Heimat) und wartet auf die Rückkehr des alten Gärtners. Vorsichtig streicht er über die dunkelblau glänzende Platte, die aus der eigenartigen Aktentasche des Alten ragt – er spürt ein leichtes Kribbeln in seinen Fingerspitzen und zieht erschrocken seine Hand zurück. 

Nach wenigen Minuten taucht der Alte plötzlich wieder auf. «Und die Völker dieser Nationen, gingen die nicht auf die Barrikaden?», wiederholt Sokratis Giolias, wortgetreu, sofort und schon ganz ungeduldig geworden, seine zuvor gestellte Frage.
«Das Volk dieser Länder, und übrigens nicht nur dieser Länder, aber was rede ich da … », unterbricht sich der Alte selbst. Von eigenständigen Ländern oder Nationen konnte man zu dieser Zeit gar nicht mehr sprechen. Diese Länder wurden offiziell zentralistisch regiert. Und die in Wahrheit Regierenden waren keine Politiker. Es war eine unbedeutende Anzahl sehr reicher, von sich selbst überzeugter Friedensstifter und Wohltäter, vernetzt in der ganzen Welt. Die einen hatten Waffen, die anderen fantastische Vorstellungen und Meinungen. Sie verbreiteten beides über die ganze Welt und trafen sich öfter, wie man heute noch erzählt, in einem kleinen Dorf eines europäischen Berglandes, wo vieles gehortet wurde, auch Geld.

«Es gab doch ganz früher so Geschichten für Kinder, Märchen nannte man sie», fährt der alte Gärtner nach kurzem Schweigen fort. «Darin kamen so unter der Erde lebende, stets gierig, Edelsteine und Metalle hortende Männlein vor … » Er kratze sich an der Schläfe, fuhr sich mit dem Daumennagel seiner linken Hand über die rechte Braue, nahm einen weiteren Schluck seines inzwischen kalt gewordenen Kaffees und vollendete seinen Satz: «Zwurgel nannte man die glaube ich, ja irgendwie so … , hm, komisch … , ob dieses Volk wohl immer noch in diesem Bergland lebt?»  

«Und die Bevölkerung dieser Länder», fragt Giolias nochmals.
«Die, na ja … », nuschelt der alte Gärtner, der sich gerade eine weitere Pistazienschnitte in den Mund schob, «die grosse Masse unterstützte kurioserweise das Ganze, obwohl es nicht zu ihrem Wohle war. Noch heute erzählt man sich erstaunt, dass sie sich ihrer Unfreiheit tatsächlich nicht bewusst waren.»
«Wie das?», fuhr Giolias ihm ins Wort.
«Was weiss ich, keiner begreift das heute, die waren irgendwie psychisch krank. Scheinbar vollgestopft bis in die letzte Zelle mit fantastischen Ideen und versorgt mit digitalen und pharmazeutischen Drogen. Seelisch-geistig sozusagen hohl wie ein neues Abflussrohr. Kommen wir zurück zu den Palästinensern und den Russen», fährt der alte Gärtner nach einer kurzen Pause fort.
«Russen?», unterbrach ihn Giolias erneut. «Ich dachte, die lebten damals schon, wo sie noch heute sind.»
«Nun, lass mich doch ausreden», sagte der Alte. «Die Menschen in Palästina und Israel konnten und wollten dieses Leid also nicht mehr ertragen. Sie wollten endlich in Frieden leben, auch miteinander.»

Der alte Gärtner blickt einen Moment in die andere Welt, streicht eine inexistente Tischdecke vor sich glatt und zieht die Schale mit den Pistazienschnitten näher zu sich heran.
«Und jetzt pass auf was kam!» fährt er sichtlich erregt fort: «Die lebten da also fast hundert Jahre eingezwängt und drangsaliert in einem zerstückelten Land … , und die ganze Welt schaute zu! Wie gesagt, die Menschen wollten endlich, endlich in Frieden leben! Das schon lange bestehende Palästinensisch-Israelische-Friedens-Komitee bat nun auf diplomatischem Wege mehrere Länder um die Aufnahme von sage und schreibe 8 Millionen Menschen, fast die gesamte palästinensische Bevölkerung, sowie rund 3 Millionen Israelis. So weit überliefert, wurden neben Russland auch China und der Iran angefragt. Und du glaubst es nicht, unverhofft tauchte diese Nachricht auf und veränderte den Gang der Welt: Russland bietet Hand – eine Heimat für Jahrhunderte lang geplagte Menschen – Palästinenser und Israelis vereint, finden eine neue Heimat.»

«Eine nie dagewesene Auswanderungswelle nach Russland folgte,» fuhr der alte Gärtner fort. «Syrien, die Türkei, Iran und natürlich Russland beteiligten sich bei der Umsetzung. Das ganze weltpolitische und höchst gefährliche Gekasper der damaligen Welt war damit vollständig überfordert. Die Kriegstreiber beider Seiten vor Ort, mitsamt ihren westlichen Friedensstiftern konnten nun mit sich selbst Krieg und Frieden spielen …»
«Und weiter», drängt Giolias, da ihm die Pause zu lange war.
«Nun, meine Vorfahren, die damals mit dabei waren und über die Schwarzmeerroute gingen, erzählten, dass bei ihrer Ankunft an der Küste Russlands,Willkommensfahnen aufgesteckt waren. Und jeder Ankommende bekam neben anderen lebenswichtigen Dingen eine Kerze als Symbol des Friedens.»

Plötzlich springt der alte Gärtner auf, greift sich die Tasche mit Platte und Helioxant. «Muss gehen, hätte schon längst die Kanäle öffnen müssen zur Bewässerung der Gärten in meinem Stadtteil!» ruft er, und weg ist er. Sokratis Giolias sitzt noch eine Weile vor sich hinstarrend da, nimmt sich das letzte Stück Pistazienschnitte, bestellt einen Kaffee und denkt: «Die grosse Auswanderung … , genial … , warum kamen die denn nicht eher auf diese Idee? Russland ist ein grosses Land … , und Heimat ist doch ohne hin nur dort Wirklichkeit, wo man sich wohl fühlt und in Frieden leben kann.»

«Russland bietet Hand – Eine Heimat für Jahrhunderte lang geplagte Menschen – Palästinenser und Israelis kommen an in ihrer neuen Heimat» (Schlagzeile aus der russischen Zeitschrift Новый Мир (Neue Welt) vom 1. Mai 2038)

 

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Andreas Beers aus Bern ist Landwirt, Arbeitsagoge und Lehrer. Er kultiviert die Erde, sät und erntet, er denkt, spricht und schreibt über: Mensch, Erde und Himmel, oder was wir zum Leben brauchen.