Der rote Löwe ­– und die Alchemie von Liebe und Macht (Teil 2)

Strategien sind immer zukunftsorientiert. Am Ende jedes Lebens steht der Tod – die Strategie des Lebens ist der Tod. Er ist ein Kunstgriff der Natur, par excellence, um das Leben zu erhalten. Und nur einige denken sich die Welt anders: die Cyborgianer! Verlassen von allen guten Geistern und mit der irrwitzigen Strategie, möglichst lange zu leben, auf Teufel komm raus. Die Konsequenz ist ein tödliches Leben – aus Seelenangst der Macht verfallen, zum ewigen Kampf verdammt. Aus der Serie «Nachrichten aus der Welt von morgen» von Andreas Beers. Teil 2 dieser Geschichte.

© Mia Leu

… Millionen Menschen starben in den Kriegen, an Hunger und Seuchen. Wo es keinen gewaltvollen physischen Tod durch Kriege gab, verwahrlosten die Menschen, seelisch und geistig – die grosse Masse der abhängig Besitzlosen. Sie waren und sind bis heute eingesperrt hinter den «Gittern», die sie sich selbst, mit Anleitung, geschmiedet haben. Ausserhalb dieser «Gitter» finden sich jene, die dazu die «Schlüssel» haben, und jene, die sich nicht täuschen liessen. Erstere bekämpfen sich nun gegenseitig, verfallen ihren Illusionen und der Selbsttäuschung. Letztere schützen und vereinen sich, zurückgezogen an den vergessenen Orte dieser Welt. Mit allen Mitteln beraubte sich die Menschheit freiwillig ihrer Freiheit. Die Medien dienten als Waffe, ihre Munition waren Täuschung und Lüge – und ihr Elixier die Digitalisierung des Lebens: denn der stetige Tropfen höhlt den Geist! Sie waren mit daran beteiligt, ich habe sie gesehen! Wir konnten rechtzeitig entkommen und kamen über Umwege hierher, am 24. Oktober 2084, an meinem 12. Geburtstag …

Mária Szepes legt das Tagebuch ihres Grossvaters zurück auf das kleine, runde Tischchen neben ihrem Bett. Sie bläst die Kerze aus, setzt sich ans Fenster und schaut in die mondhelle Sommernacht hinaus. Tief atmet sie den schweren süssen Duft der Linden ein. Tiefer Frieden breitet sich aus. Mária sieht ihren Grossvater vor sich … , er lächelt ihr zu. Sein ganzes Leben hat er auf den Feldern oder im Garten verbracht. Wenn nicht dort, dann in seiner Kräuterküche, wie er sie nannte. Aber sie war mehr als das gewesen, viel mehr! Über hundert Jahre ist es nun her, denkt sie, und im Grunde hat sich die Situation nur verschlimmert. Es gibt die Welt der Cyborgianer, abgekapselt und verstrickt in ihren aussichtslosen Zukunftsstrategien: Sie leben immer in der Zukunft, haben das Jetzt verloren und die Vergangenheit ausgelöscht.

Dann gibt es Menschen wie wir, die als «Lauscher» oder «Gärtner» bezeichnet werden, weil wir Dinge hören und sehen aus der Lichtwelt, und egal wo wir sind, immer die Erde kultivieren … Mária ist inzwischen über ihren Gedanken eingeschlafen. Kühle Nachtluft bläht die Gardinen ins Zimmer wie weisse Segel, rhythmisch pulsierend, leise raschelnd …. Über den vom Mond hell erleuchteten Getreidefeldern liegt der laue, diesige Odem – die Erde atmet aus …  das tausendfache Zirpen der Grillen ist verstummt.

Auf einem Landsitz in der ungarischen Tiefebene, an einem frühen Sommermorgen des Jahres 2197. Das Rauschen der Theiss summt über die Felder und vermischt sich mit dem Säuseln der Linden- und Kastanienbäume, die das grosse Landhaus in ihrem bläulichen Schatten bergen. Ein stetiger Wind, trocken und würzig, bläst seit der kühlsten Morgenstunde von Osten her übers Land. Am Rande der grossen, flachen und fast kreisrunden Anhöhe sitzt Mária auf der Bank unter der gespaltenen Linde. Gespalten, weil sie sich, unüblicherweise, knapp über der Erde in zwei riesige Stämme verzweigt. Ihr Großvater hatte sie dort vor langer Zeit gepflanzt. Neben ihr steht ein Korb mit leuchtend roten Malvenblüten. Noch im Tau der frühen Morgenstunden hat sie die wie Seide glänzenden Blüten unten in den Gärten gepflückt. Die Obst- und Gemüsegärten liegen wie ein bunter Saum ringsum den Fuss der Anhöhe. Durchschreitet man dieses rund zweihundert Meter breite Paradies, tritt man durch den schützenden Weidenflechtzaun hinaus auf die weiten, fruchtbaren Flure.

«Der Rote Löwe ist eine alte alchemistische Bezeichnung für das Elixier des ewigen Lebens … , auch du bist diesem Trugbild erlegen vor langer Zeit. Wonach die Cyborgianer heute trachten, entspringt demselben Ungeist, dem Antichristen … » Diese Worte tauchen plötzlich in Márias Gedanken auf, während sie die aufsteigende Sonnenscheibe am Horizont betrachtet. Sie legt ihre Hand über ihr Herz … , sie fühlt dieses Ziehen und Brennen dort… «Milòsch! Milòsch, bist du das?», fragt Mária und sieht ein Bild: eine steil in die Tiefe reichende Treppe, auf deren untersten Stufen ein unruhig zuckender Lichtschein glänzt. «Milòsch, wo bist du?», hakt Mária energisch nach. «In Budapest, zwei Stockwerke tief unter dem ehemaligen Café Gerbeaud am Régi Színház tér 33.»

«Was?!», schreit Mária erschrocken, springt auf und bleibt wie angewurzelt stehen. Ihr schwindelt, ein Gewölbe dreht sich über ihr, aufsteigender Dampf, rotglühende Tegel, darüber Glaskolben. Für einen Moment rasen die Bilder schnell und immer schneller. Dunkelheit umgibt sie, nein, ein finsterer Tunnel, an dessen Ende ein Lichtpunkt erscheint, der sich schnell ausbreitet, alles überstrahlt … , gleissende Helligkeit! Dann Ruhe und Frieden… , Stille. «Du hast es doch im Grunde immer gewusst», hört sie Milòschs Stimme sagen. «Ja, du hast recht, mein ganzes Leben ist danach ausgerichtet … , schon lange», sagt Mária und setzt sich wieder auf die Bank. Milòschs Stimme verblasst … , sie spürt auf einmal die wärmende Sonne auf ihrem Gesicht, blickt für einen Moment auf die roten Malvenblüten und sieht zum letzten Mal das Bild des roten Löwen. Über den weiten Fluren flimmert schon die Wärme des Tages. «Es ist an der Zeit», sagt Mária, hängt sich den Korb mit den roten Malvenblüten in die Armbeuge und geht hinüber zum Haus, aus dem schon ein reges, freudiges Treiben tönt.

Fortsetzung folgt am 28. März …

 

«Dein Leben wird das Fenster in der Materie sein zu einer Zeit, da die Menschen aus der tödlichen, hoffnungslosen Finsternis nach dem Lichte der Ewigkeit rufen.» (Mária Szepes, A Vörös Oroszlán, Budapest 1945)

 

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Andreas Beers aus Bern ist Landwirt, Arbeitsagoge und Lehrer. Er kultiviert die Erde, sät und erntet, er denkt, spricht und schreibt über: Mensch, Erde und Himmel, oder was wir zum Leben brauchen.