Aus dem Podcast «Fünf Minuten» von Nicolas Lindt.

Gedenkfeier für Fredy Meier, der wie kein Zweiter die Zürcher «Bewegung» verkörperte. / © Nicolas Lindt

Als ich in den Hof vor dem Kanzlei-Club trete, sind sie alle da. Jedenfalls viele von ihnen. Meine ehemaligen Mitstreiter aus der «Bewegung». 1980 stand Zürich ein Jahr lang in unserem Bann. Entzündet hatte sich die Bewegung – die einfach nur «d’Bewegig» hiess – an einem 60-Millionen-Kredit für das Opernhaus. Für die junge Musikszene blieb nichts übrig. Damit war das Mass voll. Es war damals schon voll. Eine kleine Kundgebung vor dem Opernhaus eskalierte zum ersten Krawall, und aus dem Krawall wurde ein Steppenbrand, den die erschrockene Stadt nicht zu löschen vermochte. Weder mit Zuckerbrot noch mit Peitsche.

Die Bewegung entzog sich den gewohnten politischen Umgangsformen. Sie wollte sich nicht erklären. Sie ersuchte nicht um Bewilligung. Sie versammelte sich, wo sie wollte. Plötzlich und immer wieder waren wir Hunderte, manchmal mehrere Tausend. Die Stadt verbarrikadierte sich Wochenende für Wochenende. Aus Angst vor der Bewegung. Vordergründig ging es um ein Autonomes Jugendzentrum, aber eigentlich ging es um Autonomie überhaupt. Um Selbstbestimmung. Um die Freiheit in einer Stadt, in der wir uns immer unfreier fühlten.

Nach weiteren Krawallen und Polizeieinsätzen entschied sich das Schweizer Fernsehen für eine Livediskussion mit Stadträten und Politikern. Auch die «Bewegung» wurde eingeladen, und zwei junge Bewegte, Fredy und Hayat, nahmen die Einladung an. Doch sie warben nicht für Verständnis, sondern stellten sich als «Herr und Frau Müller» vor und schimpften über die Demonstranten. Die Polizei, wetterten sie, müsse viel härter durchgreifen. Die Armee müsste eingesetzt werden. Ihr Auftritt machte jede weitere Diskussion lächerlich. Doch die Sabotage der Ordnung vor den Augen der ganzen Nation ging als «Müller-Sendung» in die Fernsehgeschichte ein.

Für ihren von der Bewegung gefeierten Showact mussten die beiden Akteure teuer bezahlen. Hayat, die ursprünglich aus dem Irak stammt, wurde im «Blick» mit vollem Namen genannt und als Ausländerin gebrandmarkt. Sie erhielt unzählige Drohbriefe und stürzte in ein seelisches Loch. Und auch Fredy bekam die Rache des Zürcher Staates zu spüren. Die öffentliche Bloßstellung der Politiker in der Müller-Sendung wurde ihm nicht verziehen. Als ein Jahr später die Kraft der Bewegung erschöpft war, schlug die Repression zu. Nahezu 1’000 Strafverfahren wurden eröffnet, und Fredy traf es am härtesten. Er sass mehr als ein Jahr im Gefängnis.

Jetzt ist der Mensch, der wie kein Zweiter die «Bewegung» verkörperte, erst 67, gestorben. Im Kanzlei-Club findet eine Gedenkfeier statt. Ein Stelldichein der Bewegten von damals pro memorian Fredy Meier. Und ich stehe im Hof und sehe die vielen ergrauten Häupter, forsche in ihren Gesichtern und erkenne sie wieder, den Kerben zum Trotz, die das Leben gezeichnet hat. Die Gesichter erkennen auch mich – und es gibt diese Zehntelssekunde, wenn dem Erkennen das wissende Lächeln folgt.

Doch dieses Lächeln des Andern bleibt aus, und deshalb lächle auch ich nicht. Ein wenig enttäuscht blicke ich weiter um mich, sehe das nächste bekannte Gesicht, hoffe erneut auf die Freude des Wiedersehens – und hoffe wieder vergeblich. Die Anwesenden sind eine Mauer aus Ablehnung. Natürlich kennen wir dich, sagen die Blicke, aber du gehörst nicht zu uns. Schon lange nicht mehr.

Ich war mittendrin, ich war einer von ihnen. Wenigstens habe ich das geglaubt. Gemeinsam eroberten wir die City. Wir demonstrierten, sprayten und diskutierten, einige warfen Steine und andere waren gegen Gewalt. Wir haben geredet, gefeiert, gelacht und uns ohne Worte verstanden. Doch als das verrückteste Jahr in Zürichs Geschichte zu Ende ging, trennten sich unsere Wege. Während die meisten Bewegten ihre weltanschauliche Unterkunft bei den Linken, Grünen und Alternativen fanden – oder schon vorher gefunden hatten –, gab es einige, so wie ich, die draussen blieben. Ohne Dach über dem Kopf. Wir waren Suchende, die sich in Denkschubladen am falschen Platz fühlten, einzelne Suchende, die das Bedürfnis hatten, weiterzudenken, selber zu denken. Auf diese Weise, Einsicht für Einsicht, entfernten wir uns von denen, die das «Richtige» dachten.

Für meine Weggefährten in der Bewegung war der Weg, den ich einschlug, ein Irrweg. Nachdem ich mich öffentlich vom materialistischen Denken abgekehrt hatte, wollten sie nichts mehr mit mir zu tun haben. Sie wechselten die Strassenseite, wenn sie mich sahen. Sie wandten den Kopf ab. Sie ignorierten mich in den Medien, für die ich noch wenige Jahre davor geschrieben hatte. Sie löschten mich aus der kollektiven Erinnerung.

Ich erlebe das schon seit Jahrzehnten. Und ich erlebe es wieder an diesem Abend vor dem Kanzlei-Club. Sie wollen mich nicht mehr kennen. Auch vierzig Jahre danach nicht. Ich störe den Gottesdienst. Einer von ihnen, ein ganz Verhärteter, meint sogar ihm Vorbeigehen zu mir: «Glaubst du, du seist hier willkommen?»

Ich wusste, was mich erwartet – trotzdem wollte ich hingehen. Denn das Jahr der Bewegung gehört zu meiner Geschichte, und die grau gewordenen, einst so Bewegten, die mich jetzt leugnen – auch sie sind Teil meiner Biografie. Ich bin so naiv, dass ich mich freue, sie wiederzusehen, und ich habe sogar den unverständlichen Wunsch, ein paar Worte mit ihnen zu wechseln, weil es mich interessiert, wo sie heute stehen. Nicht weltanschaulich, sondern persönlich. Menschlich.

Aber ich lasse es bleiben. Denn ich weiss und erlebe hier einmal mehr, dass politische Freunde keine Freunde sind. Weil es keine Verbindung von Mensch zu Mensch ist, keine Freundschaft der Herzen, sondern der Köpfe. Wenn du nicht mehr das Gleiche wie sie denkst, sind sie im mildesten Fall von dir enttäuscht oder sie schauen durch dich hindurch.

Einen von ihnen begrüsse ich dennoch. Ich bin ihm auch nach dem Jahr der Bewegung hin und wieder begegnet, und er hat nie zu denen gehört, die die Strassenseite gewechselt hätten. Meine Meinung teilte er nicht, aber sie interessierte ihn. Er hörte mir jedes Mal zu. Er fragte. Er zeigte die Neugier des wachen Menschen. So ist es auch jetzt. Mein Gesinnungsgenosse von damals lächelt, als er mich sieht. Wir begrüssen uns, als habe es nie eine Kluft gegeben, und wir reden die längste Zeit, ohne dass wir uns einig sein müssen. Wir können das.

Dann auf einmal sagt er: Ich habe eine Gruppe gegründet, nicht öffentlich, nur ein paar Leute. Wir reden darüber, warum es heute so schlimm ist. Warum die Einen mit den Anderen nicht mehr reden. Warum diese Spaltung ist zwischen den Leuten. Und warum sie immer unversöhnlicher wird.

Das sagt er, und ich finde dasselbe. Wir verstehen uns fast so wie damals, im Jahr der Bewegung. Allein schon deshalb, denke ich später, war meine Fahrt in die Stadt nicht umsonst. Fredy Meier, zu dessen Gedenken wir uns versammelten, hätte uns beigepflichtet. Er war ein toleranter Mensch. Leben und leben lassen. Denken und denken lassen. Und so haben die Bewegten von damals, ohne es zu beabsichtigen, mit ihrer Feier für Fredy Meier auch die Tugend der Toleranz gefeiert.

 

Vom Autor erschien 2020 «Nur tote Fische schwimmen mit dem Strom» – Porträts, Geschichten & Reportagen aus dem Jahr der «Bewegung» 1980/81. Verlag Edition 8 Zürich, 316 Seiten. Erhältlich bei Ex Libris oder im ZO-Shop