3 Fragen an Zukunftsforscher Franz Nahrada

Der Globalisierungsphilosoph, Digital-Aktivist, Netzwerker und Zukunftsforscher ist seit 2015 im «Unruhestand», wie er es nennt. Denn ruhig ist es bei ihm seit der Pensionierung keineswegs. Schon mehr als 30 Jahre beschäftigt sich Franz Nahrada mit dem Phänomen der peripheren Urbanität, den sogenannten «globalen Dörfern», hält heute noch Vorträge darüber und baut die Welt von Morgen weiterhin mit auf. Corona habe gezeigt, dass auf der Welt schon längst alle miteinander vernetzt sind, so der 66-jährige Österreicher – und deswegen auch alle verwundbar sind, wenn etwas passiert.

© Jürgen Makowecz

Zeitpunkt: Bifurkation, Gabelung: Corona kam, und nun gehen wir in eine andere Richtung als davor. Kann man das so sagen? Und wenn ja, wohin?

Franz Nahrada: Es gibt einen alten Kalauer von Georg Kreisler: «Alle wollen etwas ändern, keiner will die Zukunft wie sie war.» Soll heissen, gerade in Coronazeiten merken wir, wie sich die alten Interessen, Sichtweisen und Verhaltensweisen der neuen Umstände bedienen wollen. Wir haben erstmals in der Weltgeschichte etwas erlebt, das uns in drastischster Form vor Augen geführt hat, dass die Menschheit schon längst miteinander vernetzt und verwundbar sind. Aber trotzdem regieren die alten Instinkte und Mechanismen weiter. Werden Machtkämpfe und Positionskämpfe geführt, Allianzen geschmiedet und Drohkulissen aufgebaut. Es geht immer noch um Wirtschaft und Wachstum, obwohl wir erlebt haben, dass mit der Grösse eines Systems seine Anfälligkeit steigt. Auch wird immer noch aus jedem Schaden, den jemand anders hat, eine Gelegenheit für Geschäft und für Bereicherung gemacht. Und Systeme der Überwachung und Kontrolle werden ausgebaut.

Also ist das «Wohin» sehr schwierig zu beantworten, solange es fast wie bei einem Lotteriespiel heisst: Wer zuerst seine Wirtschaft und Gesellschaft aus der Pandemie rausholt, der hat in der Nach-Corona-Ordnung das grosse Sagen. Wir erleben die alte Wahrheit – nämlich, dass unser ganzes Leben instrumentalisiert ist von den politischen Gewalten – in einer neuen Intensität. Unsere Gesundheit und unser Wohlergehen ist kein Wert an sich, sondern letztlich ein Machtfaktor. Das nennt man seit längerem Biopolitik.

Und doch scheint sich, und vielleicht auch gerade durch dieses Corona-Erleben hindurch, ein Bewusstsein einer tiefen wechselseitigen Abhängigkeit herauszubilden. Und zwar das Bewusstsein, dass letztlich jede Schwächung eines Teils unseres globalen Organismus das Einfallstor für Krisen und Bedrohungen für uns alle ist. Gegen das Virus und seine Mutationen halfen keine Mauern und Seeblockaden. Die wechselseitige Benutzung der Welt will ja auch niemand abstellen. Wir müssen aber offensichtlich von der wechselseitigen Benutzung zur Stärkung übergehen. Und ich glaube wir müssen eine Tendenz begrüssen, die mit dem ganzen Mechanismus der Globalisierung vielleicht gar nicht angestrebt war, dass uns die globale Vernetzung eben auch mit Wissen und Können in Kontakt bringt, die unsere Möglichkeiten an jedem Ort steigern.

Das könnte die grundlegend andere Richtung sein, in die diese Welt tatsächlich gehen sollte. Es gibt ein ständig steigendes Potential des Lokalen, die Fähigkeit Probleme vor Ort zu lösen, lokale Ressourcen wie die Sonnenenergie oder den Wind oder biogene Materialien in ein komplexes Kreislaufsystem nach dem Muster der Natur einzuspeisen. Das ist eine Logik, die der alten Logik diametral entgegengesetzt ist, und sie wird ausgerechnet durch die Digitalisierung massiv unterstützt. Nur läuft sie der bisherigen Absicht des Wirtschaftlichen total zuwider.

Dinge, die man vorher für unvorstellbar hielt, wurden während der Krise digitalisiert. Heute besucht man etwa ein Theaterstück oder ein Konzert online. Ist das eine positive Entwicklung?

1994 erschien ein warnendes Buch, das hiess «Das Ende der Mobilität: Leben am Datenhighway». Darin beschreibt der Autor eine in sich gepanzerte Gesellschaft vereinzelter und vereinsamter Menschen. Ich glaube aber, dass die Coronakrise gezeigt hat, dass wir dieses eingesperrte Leben als Couch-Potatoes im Menschenschliessfach eines urbanen Hochhauses nicht ertragen. In fast allen Grossstädten der Welt haben sich neuerdings wieder spürbare Tendenzen eines neuen Exodus aus den Städten entwickelt: Wer es sich leisten kann, geht an die Peripherie oder aufs Land. Es entstehen «globale Dörfer», wie ich sie nenne. Und das geht lediglich, wenn man nicht nur seine Freizeit, sondern auch seine Arbeit und seine Bildung mitnehmen kann. Nur die Digitalisierung macht das möglich.

Also grundsätzlich ist meine Antwort: Wenn ich in einer schönen kleinstädtischen Mehrzweckhalle, gut belichtet und klimatisiert, umgeben von hängenden Gärten und Restaurants, ein Konzert oder eine Opernaufführung aus der Metropolitan Opera anhören kann, dann ist das ein Mehrwert gegenüber dem Wohnzimmer mit Grossbildschirm und Vierkanalstereofonie. Kurzum: Mit dem Exodus von Städtern aufs Land gibt es auch ein steigendes Bedürfnis nach einem Kulturerlebnis vor Ort respektive in den eigenen vier Wänden. Die digitalen Medien können tatsächlich den häuslichen Bereich überschreiten, um eine Art Augmented Reality – erweiterte Realität – zu unterstützen.

Wäre das ohnehin in absehbarer Zukunft geschehen, diese Digitalisierung? Und nun wie weiter?

Genauso sehe ich das. Es war ein riesiger Fusstritt, der uns in die Zukunft katapultuiert hat, aber eigentlich auch von den ökonomischen Subjekten der Digitalisierung nicht ganz so geplant. Denn wir waren von denen eher als diese Couch-Potatoes vorgesehen und als Konsumenten. Wir sind jedoch plötzlich mit unserem gesamten Lebensvollzug auf die Bandbreite dessen gestossen, was Digitalisierung kann. Wir sind daran erinnert worden, dass es sich um eine Revolution aller Lebensbereiche handelt. Daraus kann man wesentlich mehr machen, vor allem eine wirkliche Transformation.

Ich habe oben ausgeführt, dass ich den herrschenden Eliten nur bedingt Lernfähigkeit zutraue. Auch werden uns wohl durch die absehbare Weiterentwicklung der Militärtechnologie neue Gefahren aus dieser Ecke erwachsen, zum Beispiel immer mehr autonome Waffen wie Killerroboter. Es ist allerdings so wie oft in der Geschichte: Es könnte ebenso sein, dass neue Akteure die Bühne betreten, die durch ihre Assoziation eine gewaltige neue Macht ins Spiel bringen, mit neuen Werten, neuen Spielregeln, und wenn man so will auch mit neuen Waffen. So war es mit dem Bürgertum, so war es mit der Arbeiterbewegung, so könnte es auch mit dem sein, was ich die selbstbewussten, lokal vernetzten Gemeinschaften nenne. Ihre Spielregeln sind der globale freie Wissensaustausch und das lokale Aufblühen autarker Lebensräume.