Das Ernährungsparlament gibt jungen Menschen die Möglichkeit, im Landwirtschafts- und Ernährungssystem mitzureden und mitzugestalten. Letztes Jahr ist es vom Verein «Landwirtschaft mit Zukunft» gegründet worden. Isabel Sommer ist Projektleiterin dieses Parlaments, das sich für einen Wandel im Ernährungssystem einsetzt. Damit in der Schweizer Landwirtschaft mehr alternative Projekte möglich seien, so die 36-Jährige, müssten die Rahmenbedingungen geändert werden.

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Zeitpunkt: Wieso braucht es ein Ernährungsparlament? Und wo tagt es?

Isabel Sommer: Eine breite Bevölkerungsgruppe, die involviert ist im Ernährungssystem, wird nicht gehört. Anders gesagt: Gehör finden immer die gleichen Stimmen, etwa der Bauernverband oder die Grossverteiler. Es gibt aber viele junge Menschen, die im Ernährungssystem arbeiten, die alternative Projekte umsetzen oder alternative Betriebe führen. Dazu gehören Solidarische Landwirtschaftsgenossenschaften und Permakulturhöfe. Wir vom Verein «Landwirtschaft mit Zukunft» wollen verschiedenen Stimmen Gewicht geben. Deswegen haben wir das Ernährungsparlament einberufen.

Über die Wintermonate haben wir Webinare organisiert, in denen es darum ging, dass die Teilnehmer zu verschiedenen Schwerpunktthemen der Landwirtschaft und des Ernährungssystems Informationen erhalten – erst war es also eine Art Wissensvermittlung. Diesen März dann fand die abschliessende Hauptveranstaltung statt, in der schliesslich diskutiert und debattiert wurde. Wegen Corona mussten wir sie online durchführen. Es nahmen 60 Menschen teil, aus allen Ecken der Schweiz. Unter den Teilnehmern und Teilnehmerinen waren Menschen, die irgendwie in der Landwirtschaft tätig sind oder beruflich mit der Ernährungskette zu tun haben. Also auch Ärzte, Leute aus der Gastronomie oder aus dem Handel.

Wir vom Ernährungsparlament wollen Reformen in der Landwirtschaft. Und wir wollen aufzeigen, welche alternative Projekte in der Schweiz bereits heute zum bestehenden Ernährungssystem existieren. Es geht nämlich sehr wohl anders. Dazu müsste man aber die Rahmenbedingungen ändern, auch auf gesetzlicher Ebene. Solidarische Landwirtschaftsgenossenschaften haben beispielsweise nach wie vor nicht die gleichen Rechte wie klassische Bauernbetriebe. Sie bekommen nur beschränkt Land, auf welchem sie Landwirtschaft betreiben können, oder sie können keine Direktzahlung beantragen, weil sie eine Genossenschaft sind.

Die Trinkwasser- und Pestizidinitiative wurden abgelehnt. Wie denken Sie darüber?

Ich finde es schade, dass vor allem junge Menschen nicht überzeugt werden konnten, sich für einen radikalen Wandel in der Landwirtschaft einzusetzen. Es braucht eine grundlegende Transformation unseres Ernährungssystems. Aber die Agrarpolitik AP22+, die eine umweltgerechte Lebensmittel-Produktion vorsah, wurde ja diesen März vom Parlament nach jahrelanger Vorarbeit sistiert. Die Trinkwasser- und die Pestizidinitiative haben in den letzten Monaten breiten Zuspruch und erbitterte Ablehnung hervorgerufen. Viele Bürger und Bürgerinnen sind verunsichert über die wachsende Konfrontation und die widersprüchlichen Aussagen der verschiedenen Interessensgruppen. Deswegen wollen wir vom Ernährungsparlament den Bürgern und Bürgerinnen nicht nur eine simple Ja/Nein-Auswahl bieten, sondern sie aktiv in die Ausarbeitung von Lösungsvorschlägen einbeziehen.

Was heisst das?

Nun, wir fordern einen «Bürger:innenrat für Ernährungspolitik». Dieser soll in einem deliberativen – beratenden – Prozess eine umfassende Ernährungspolitk erarbeitet. Das bedeutet, dass sich eine repräsentative Gruppe zufällig ausgewählter Personen aus der Bevölkerung über die Thematik informiert, sich berät, Vorschläge vorlegt und verbindlich über ihre Umsetzung entscheidet. Damit soll ein wichtiger Beitrag zur Transformation hin zu einem nachhaltigen Ernährungssystem in der Schweiz und indirekt auch weltweit geleistet werden. Wenn deliberative Prozesse effektiv durchgeführt werden, können sie zu besseren politischen Ergebnissen führen, politische Entscheidungsträger in die Lage versetzen, schwierige Entscheidungen zu treffen und das Vertrauen zwischen Bürgern und Regierung und damit die Demokratie stärken – all dies scheint uns in der Ernährungspolitik derzeit dringend nötig.

Andere Länder haben bereits gezeigt, dass kontroverse Themen durch solche «Bürger:innen-Räte» aus einer Blockade gebracht werden konnten. So wurde etwa in Irland das Abtreibungsrecht auf Empfehlung eines Bürgerrates reformiert. In Frankreich, im Vereinigten Königreich und in Deutschland wurden Bürgerräte zum Thema Klima einberufen. Die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) zeigt klar auf, dass deliberative Prozesse erfolgreich sind, auch für etablierte Demokratien wie die Schweiz. Jetzt ist der Moment wieder miteinander in den Dialog zu treten, um wirkliche Veränderung anzustossen!